Jenny Nordberg – Afghanistans verborgene Töchter

Nordberg_AfghanistanIn Afghanistan ist es ein offenes Geheimnis, dass in einigen Familien Mädchen als Jungen verkleidet aufwachsen. Für die westliche Welt ist das Phänomen der bacha posh, wie diese Kinder genannt werden, eine Überraschung und auf den ersten Blick nur schwer vereinbar mit unserer Vorstellung vom streng konservativen Afghanistan, das wir aus den Abendnachrichten kennen. Mädchen mit kurzen Haaren, unverschleiert und offenem Blick, die auf Bäume klettern und Drachen steigen lassen, das passt so gar nicht zu unserem Bild von der verschüchterten, Burka tragenden Afghanin, die das Haus nur in Begleitung ihres Mannes oder ihres Bruder verlassen darf. Und doch sind gerade die bacha posh ein Resultat des radikalen Patriarchats, wie die investigative Journalistin Jenny Nordberg höchst einleuchtend beschreibt.

Sie selbst stösst 2009 rein zufällig auf ihre erste bacha posh, als sie Azita, eine der wenigen weiblichen Parlamentsabgeordneten in Kabul für ein Interview besucht. Während Azita noch ein wichtiges Telefonat führt, unterhält sich Jenny Nordberg mit deren zehnjährigen Töchtern, die sich fast überschlagen, um die Aufmerksamkeit der hoch interessanten Ausländerin auf sich zu ziehen. „Unser kleiner Bruder ist in Wirklichkeit ein Mädchen“, behaupten die beiden. „Ja, ja,“ denkt sich Jenny Nordberg und überlegt, ob sie sich vielleicht verhört hat. Der spitzbübische Mehran auf dem Foto soll ein Mädchen sein? „Doch, das stimmt“ bestätigt Azita kurz darauf die Behauptung ihrer Töchter. Da ihr Ansehen als Politikerin und auch das ihres Mannes darunter litt, dass sie nur Töchter hatten, habe sie sich dazu entschlossen, ihre jüngste Tochter als Jungen aufwachsen zu lassen. Sie heiße seitdem Mehran und gehen mit den anderen Jungen des Viertels zur Schule. Für ihre anderen Töchter seie dies auch von Vorteil, denn nun könne Mehran seine Schwestern nach draußen begleiten und auf sie aufpassen, wie ein richtiger Junge eben. Mehran verhält sich auch wie ein solcher, ist frech, klettert auf Bäume und prügelt sich, wen jemand sie beleidigt. Als bacha posh genießt sie sämtliche Privilegien, die einem Jungen zustehen, voraussichtlich bis zum Eintritt in die Pubertät, denn dann wird er wieder in ein Mädchen zurückverwandelt werden.

Sobald die Geschlechtsreife eintritt, ist eine bacha posh nicht mehr gesellschaftlich akzeptabel. Jetzt kann sie als Junge nicht mehr den Status der Familie aufwerten, sondern muss ihren Pflichten als Frau nachkommen und Kinder, vorzugsweise Söhne gebären. Dass diese Rückverwandlung nicht immer unproblematisch von statten geht, kann man sich vorstellen. Wer kommt schon so ohne weiteres damit klar, von einem Tag auf den anderen seine gewohnten Freiheiten aufgeben und einen vollständig neuen Habitus erlernen zu müssen. Deshalb bleiben manche Frauen ihre Leben lang eine bacha posh, mit allen Erniedrigungen und Anfeindungen, die das in der afghanischen Gesellschaft mit sich bringt.

Nach ihrer Bekanntschaft mit Mehran macht sich Jenny Nordberg gezielt auf die Suche nach weiteren bacha posh. Sie trifft Frauen, die die Rückverwandlung verweigern, Frauen, die zwischen den Geschlechtern pendeln und Männer, die ebenfalls unter dem gesellschaftlichen Druck leiden und ihre Töchter zwangsweise zwangsverheiraten. Durch ihre einfühlsamen Recherchen erfährt Jenny Nordberg auch, warum manche Mädchen als Jungen aufwachsen.

In finanziell gut gestellten Familien, wie es bei Azita der Fall ist, dienen die bacha posh zur Steigerung des Ansehens. Nur ein Mann der Söhne hat, ist ein richtiger Mann und auch der Rang der Frau innerhalb der Familie ist wesentlich besser, wenn sie einen Sohn hat, besonders wenn sie mit weiteren Ehefrauen konkurrieren muss. Polygynie ist in Afghanistan erlaubt.
In armen Familien helfen die bacha posh das Einkommen aufzubessern. Als Jungen verkleidet dürfen bzw. müssen die Mädchen arbeiten gehen, als Laufburschen, Schuhputzer, in den Läden, auf dem Markt.
Und sie sind magisch. Bekommt eine Frau nur Mädchen, dann wird ihr oft von der Hebamme geraten, eines als Jungen auszugeben. Die Chance, dass das nächste Kind dann tatsächlich ein Junge wird, werde dadurch sehr viel größer. Das scheint so gut zu funktionieren, dass sich der Brauch über die Jahrhunderte hinweg gehalten hat. Was mich nicht überrascht, denn wir kennen solche Geschichten in abgewandelter Form von vermeintlich unfruchtbaren Paaren, die nach der Adoption eines Kindes noch ein eigenes bekommen.

Die bacha posh sind keine Rebellion gegenüber dem bestehenden System, sondern ein Zugeständnis. Und solange Frauen auf Rollen reduziert werden, die die Gesellschaft für sie als natürlich, gottgegeben und weiblich definiert, wird es diese Anpassungsversuche geben. Die bacha posh sind sicherlich eine extreme Form, aber auch wir in den westlichen Gesellschaften haben uns davon bei weitem noch nicht restlos befreit. Jenny Nordberg weist hier zu recht auf die männlichen Verhaltensmuster in Chefetagen hin, die sich Frauen aneignen, um gehört zu werden.

In der Beschreibung der bacha posh und ihren Familien hält sich Jenny Nordberg ganz an ihren Ethos als investigative Journalistin. Nur beobachten, nicht werten, nicht einmischen. Ihrem Anspruch keine Emotionen zu zeigen, kann sie zum Glück nicht genügen, denn durch ihr Mitgefühl und ihre dezente Solidarität wird das Buch warmherzig und bewegend. Sie schildert Menschen, und keine nüchternen Fallbeispiele und sich selber häufig mit einem Augenzwinkern. Fast könnte man darüber vergessen, was für eine mutige und bewundernswerte Leistung diese Recherche und dieses Buch ist. Das sollte man auf aber auf gar keinen Fall.

Wer nach dem Buch mehr erfahren möchte, dem sei auch Jenny Nordbergs Website über die bacha posh empfohlen: www.bachaposh.com

Jenny Nordberg
Afghanistans verborgene Töchter
Wenn Mädchen als Söhne aufwachsen
Aus dem Englischen von Gerlinde Schermer-Rauwolf und Robert A. Weiß, Kollektiv Druck-Reif
ISBN 978-3-455-50349-4
Hoffmann und Campe

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