Marie Hammer, 1933

Eva Tind – Die Frau, die die Welt zusammenfügte

»Wenn man sein Leben nicht für das nutzt, was einen am meisten interessiert, wird man nie glücklich.«

Jeden Sonntag liegen Marie und ihre Geschwistern auf den weichen Teppichen vor den Bücherregalen ihres Vaters. Sie stecken ihre Nasen in dicken Folianten, betrachten die Bilder und saugen das Wissen in sich auf. Wenn ich groß bin, werde ich all die Länder bereisen und all die Tiere und Kulturen sehen, nimmt sich Marie vor. Bis dahin muss sie allerdings mit den Wiesen und Mooren rund um den Løvbjerggård vorlieb nehmen.

1912 ist die Familie Jorgensen von Kopenhagen hierher gezogen, als Selbstversorger angesichts des Krieges. Trotzdem reicht das Geld hinten und vorne nicht. Maries Mitschülerinnen spekulieren, dass Marie bestimmt im Bett bleiben muss, wenn ihr Kleid gewaschen wird. Aber für die weiterführende Schule reicht es dennoch und es gelingt Marie, wie auch ihren Schwestern, nach dem Abitur einen Studienplatz in Kopenhagen zu ergattern.

Als eine von drei Frauen beginnt Marie Biologie zu studieren. Die Dachwohnung, die sie sich mit ihrer Schwester Bitten teilt, ist eisig kalt. Die Mahlzeiten bestehen aus Kartoffeln von zuhause. Aber noch nie hat sich Marie so frei gefühlt. Sie liebt es, kleinste Dinge unter dem Mikroskop zu betrachten und entdeckt eine Welt, die für die meisten unsichtbar ist – und die bislang kaum erforscht wurde. Der Gedanke, dass sie die erste ist, die eine bestimmte Moosmilbe zu Gesicht bekommt und durch ihre Hand und einen Bleistift sichtbar macht, fasziniert sie. 5.000 Zeichnungen dieser winzigen Lebewesen wird sie im Laufe ihres Lebens anfertigen und mehr als 1.000 neue Arten entdecken.

Marie schließt ihr Studium mit Bestnoten ab. Aber im Institut werden ihr nur Aushilfstätigkeiten angeboten. Eine Frau in der Forschung ist 1931 für die Entscheidungsträger nicht vorstellbar. Marie packt die Angst. Wird sie den Rest ihres Lebens in einem Labor verbringen müssen? Dabei ist für sie vollkommen klar, dass alle wichtige Forschung draußen in der Welt geschehen muss und nicht anhand von Büchern und eingestaubten Sammlungen.

Maries großes Vorbild ist der Polarforscher Knud Rasmussen. 70 Kilometer ist sie mit dem Rad gefahren, um einen Blick auf sein Haus in Hundested zu werfen. Als Knud Rasmussen in dem Moment zufällig vor die Tür tritt, sehen sich die beiden zum ersten Mal. Maries Studienfreund Milthers, der bereits an einer Thule-Expedition teilgenommen hat, ermuntert Marie sich für die nächste zu bewerben. Rasmussen habe nämlich einen Riecher für Talente. Und tatsächlich, Marie darf mitreisen und auf Grönland forschen.

Auf der Expedition ist Marie Gleiche unter Gleichen und genießt dies sehr. Hier entdeckt sie erstmals, dass es auf Grönland und in Dänemark die gleichen Milbenarten gibt und wagt die These, dass die von Alfred Wegner postulierte Kontinentaldrift ursächlich dafür ist. Diese These wird sie im Laufe ihres langen Forscherinnenlebens belegen – und so die Welt zusammenfügen. Ohne für ihre umfangreiche Arbeit jemals bezahlt zu werden.

Marie heiratet den Zoologen Ole Hammer und bekommt mit ihm vier Kinder. Als das jüngste zwei Jahre alt ist, bricht sie, finanziert mittels Stipendien, zu ihrer nächsten großen Forschungsreise nach Kanada, Alaska und in die Rocky Mountains auf. Im Laufe ihres Lebens wird Marie die ganze Welt bereisen und Milben sammeln, mal mit einem Kind, mal mit Ole, mal allein. In den wenigen Stunden, die ihr neben ihren Aufgaben als Hausfrau und Mutter noch bleiben, wird sie ihr umfangreiches Material bearbeiten, analysieren, dokumentieren. Es ist beeindruckend, mit welch Energie, Kraft und Sturheit Marie zeitlebens ihr Ziel verfolgt hat. Dass nicht nur sie, sondern auch ihre Familie und Freunde dafür einen hohen Preis gezahlt haben, kann man sich vorstellen.

Eva Tinds Roman ist das bewegende Porträt einer besonderen Frau und Forscherin. Eine »literarische Fantasie« nennt Eva Tind ihn. Eine Fantasie, die allerdings auf umfangreichen Recherchen, Gesprächen mit Maries Kindern und Maries Autobiografie »Forscherin auf fünf Kontinenten« basiert. Ich habe das Buch mit großer Begeisterung gelesen. Es ist mitreißend und lebendig geschrieben, stilistisch hervorragend und die Übersetzung von Ursel Allenstein ein Genuss. Auch wer kleinen Krabbeltieren und Milben nicht viel abgewinnen kann, sollte dieses großartige Buch unbedingt lesen. Es erweitert den Horizont ungemein.


Cover Eva Tind, Die Frau, die die Welt zusammenfügt

Eva Tind
Die Frau, die die Welt zusammenfügte
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
ISBN 978-3-498-00287-9
Rowohlt Verlag


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