Helena von Zweigbergk – Totalschaden

Cover Helena von Zweigbergk, Totalschaden
Die Katastrophe

Nur kurz ein Zigarette rauchen, denkt sich Agneta. Nur eine, obwohl Xavier das hasst. Aber diese kleine Pause am Abend braucht sie, diese eine Zigarettenlänge Zeit für sich. Heute ganz besonders. Die fünf Hasen auszuweiden und für das Essen vorzubereiten war aufreibender als gedacht und die ewigen Streitereien mit Xavier zerren auch an ihren Nerven. Vermutlich ist Xavier mit seinem neuen Dasein als Rentner noch nicht im Reinen. Früher war er jedenfalls nie so gereizt und vor seiner Pensionierung hätte er auch nie den Jagdschein gemacht. Geschenk hin oder her. Aber um seine ehemaligen Kollegen nicht zu enttäuschen, hat er diese blöden Hasen geschossen, die gerade auf dem Herd vor sich hin schmoren.

Ein durchdringender Pfeifton reißt Agneta aus ihren Gedanken. Als sie zurück in die Küche stürzt schlägt ihr bereits schwarzer Rauch entgegen. Sie greift den brennenden Topf, wirft ihn in die Spüle und lässt Wasser darüber laufen. Es zischt, es qualmt und das Feuer scheint gelöscht. Ein Irrtum, wie sich bald herausstellt, denn das Feuer ist über die Dunstabzugshaube bereits in den Dachstuhl gelangt. Mit knapper Not gelingt es Agneta und Xavier ihren Enkel Eddy und Hund Molly vor dem Feuer zu retten. Kurze Zeit später ist ihr Heim ist nur noch ein Totalschaden.

Dreißig Jahre lang haben sie in dem Haus gelebt. Ihre gemeinsamen Kinder Hanna und Astrid, sowie Xaviers Tochter Maria sind hier aufgewachsen. Es war kein schönes Haus, vielmehr ein umgebautes Bürogebäude, das sie damals nach ihrer Heirat günstig erwerben konnten. Aber es war ein Zuhause, voller Erinnerungen und Gegenstände, verbunden mit liebgewonnenen Ritualen. Der Kronleuchter, dessen Kerzen an jedem Geburts- und Feiertag entzündet wurden, ist verrußt und verbogen. Andere Dinge, wie Fotoalben oder Spielzeug haben das Feuer zwar überstanden, sind aber von Löschwasser durchtränkt und stinken. Und da es Winter ist und unter Null verwandelt sich das gesamte Haus rasch in einen schwarzen Eispalast.

Schuld und Sühne

Agneta ist am Boden zerstört, steht unter Schock und weiß mit ihren Schuldgefühlen nicht wohin. Aber statt einer tröstenden Umarmung bekommt Agneta von Xavier zu hören, sie solle sich doch bitte endlich zusammenreißen und nicht so Ichbezogen sein. Ihr Selbstmitleid könne sie sich sparen, damit wäre nun wirklich niemandem geholfen. Und was wüsste sie denn schon von wirklichem Leid. Davon hätte sie im Gegensatz zu ihm nun wirklich keine Ahnung. Immerhin hätte sie ja keinen lieben Menschen verloren – so wie er damals.

Damals lebte Xavier in Argentinien und war mit seiner großen Liebe Ana verheiratet. Gemeinsam engagierten sie sich in der Widerstandsbewegung gegen die Militärjunta. Als Maria drei Jahre alt war, wurde Ana vermutlich aus Rache von einem Polizisten ermordet. Woraufhin Xavier Hals über Kopf mit seiner Tochter das Land verließ und Zuflucht in Schweden fand. Überwunden hat er Anas Tod nie, was sich nicht nur auf seine Ehe mit Agneta ausgewirkt hat, sondern auch auf sein Verhältnis zu Maria und den Zwillingen Hanna und Astrid. Aber wiegt Xaviers Leid tatsächlich schwerer als Agnetas? Und müsste nicht gerade Xavier, der sich zeitlebens Vorwürfe gemacht hat, weil seine Tochter mutterlos in einem fremden Land aufwachsen musste, Verständnis für Agnetas Gefühle haben?

Die Abrechnung

Das könnte man meinen, wenn Menschen und Beziehungen nicht komplizierter und komplexer wären, als man es sich manchmal vorstellt. Das wirklich Großartige an diesem Buch ist, dass die Autorin Helena von Zweigbergk diese Vielschichtigkeit in eine spannende Geschichte zu fassen vermag. Und obwohl die Ereignisse und die Irrungen und Wirrungen dieser Familie aus Agnetas Perspektive erzählt werden, lässt die Autorin allen Figuren genug Raum, um sich zu entwickeln und nicht nur die Leserin zu überraschen. Denn – und das zeigt dieses Buch – die Annahme, wie ein anderer denkt und fühlt, kann falsch sein, auch wenn man dreißig Jahre seines Lebens miteinander verbracht hat und glaubt, den anderen in- und auswendig zu kennen. Was im Übrigen auch für die Beziehung zwischen Eltern und Kindern gilt. Nun, wo Agneta und Xavier darüber entscheiden müssen, wie es mit ihnen und dem Haus weitergeht, brechen ungeahnte Konflikte auf und werden Verletzungen zur Sprache gebracht, die alle Beteiligten längst für überwunden hielten.

Ob auch Agentas Ehe einen Totalschaden erleidet oder die Beziehung zu ihren Kindern, lasse ich an dieser Stelle offen. Nicht verheimlichen will ich allerdings, dass die Geschichte neben aller Tragik, auch sehr unterhaltsam und spannend ist. Manche Szenen und Gedanken sind herrlich absurd und entlarvend. So gehen Agneta spontan Weihnachtslieder durch den Kopf, während sie auf ihr brennendes Haus blickt. Und an anderer Stelle vergleicht sie sich selbstironisch mit einem besiegten Drachen, der auf der Treppe sitzt und müde vor sich hin qualmt.
»Totalschaden« von Helena von Zweigbergk ist eine in jeglicher Hinsicht emotionale und sehr bereichernde Lektüre, die trotz aller Schwere auch eine gehörige Portion Leichtigkeit bereithält.

Helena von Zweigbergk
Totalschaden
Aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder
Nagel & Kimche
ISBN 978-3-312-01163-6

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