Elisabeth Åsbrink – Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume

Familienfotos finde ich faszinierend, nicht unter dem künstlerischen Aspekt, sondern als historische Momentaufnahmen. Ich kann stundenlang darüber spekulieren, was die Personen auf den Bildern wohl denken und fühlen und was nach der Aufnahme alles passiert ist.
Je älter die Fotos sind, desto mehr schleicht sich auch ein melancholischer Unterton in meine Gedanken. Kennt jemand diese Menschen und ihre Geschichten noch, oder sind die Bilder das einzige, was von ihnen geblieben ist?

Im Fall der schwedischen Familie Ullman gibt es auch noch Briefe, über 500, die viele Jahre unangetastet in einem IKEA-Karton lagen. Bis die Tochter von Otto Ullmann, an den sie adressiert sind, sich ein Herz fasste und der Autorin Elisabeth Åsbrink die Briefe und Fotos übergab. Diese las die Briefe, sprach mit weiteren Verwandten Ottos, recherchierte in vielen Archiven und veröffentlichte Ottos Geschichte unter dem Titel Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume, denn Otto stammte aus Wien.

Auf den Fotos, die in Wien aufgenommen wurden, sieht man Otto als kleinen Jungen, der Tauben füttert oder mit seiner Familie auf einer Picknickdecke sitzt und herzhaft in ein Butterbrot beißt. Überhaupt ist Otto auf sämtlichen Wiener Fotos fast immer mit Mutter oder Vater, Onkel und Tanten zu sehen, Gesichtern, die auf den schwedischen Fotos allesamt fehlen.

Die Familie Ullmann waren Juden. Bis zu Hitlers Machtergreifung hatte dies für sie keine Rolle gespielt, danach registrierten sie mit wachsender Besorgnis die Repressalien und suchten nach Mitteln und Wegen, um Österreich zu verlassen. Doch je mehr Zeit verging, desto aussichtsloser wurde ihre Lage. Viele Länder schlossen ihre Grenzen für jüdische Auswanderer, ein Affidavit für alle war nicht in Sicht. Nur für Otto ergab sich ein winziges Schlupfloch raus aus Wien in die Sicherheit nach Schweden.

Sigfried Hansson, der Generaldirektor der Königlichen Sozialbehörde ließ sich von den Argumenten und Bitten Pastor Pernows und Erzbischof Eidems beeindrucken und erlaubte cirka sechzig Kindern, davon 25 aus Wien, die Einreise nach Schweden. Vorausgesetzt sie waren getauft, wohlerzogen und ohne Ambitionen was ein Studium oder eine Ausbildung anging. Billige Hilfskräfte für Haushalt und Landwirtschaft konnten viele Schweden akzeptieren, Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt hingegen nicht. Das hatten die vielen Appelle von Wirtschaftsverbänden an die Königliche Sozialbehörde bereits hinlänglich bewiesen. Auf Otto traf das meiste zu und so bestieg er zusammen mit den anderen ausgewählten Kindern am 1. Februar 1939 den Zug nach Schweden.

In den folgenden Jahren schrieben ihm seine Eltern fast täglich einen Brief mit munteren Alltagsgeschichten und liebevolle Ermahnungen. Ihre Hilflosigkeit und Verzweiflung ob ihrer Situation in dem abgeriegelten Wien findet man nur zwischen den Zeilen und in den eindringlichen Forderungen, Otto solle öfter schreiben, von seinem neuen Leben, seinen neuen Freunden und dem wunderbaren Schweden. Sie wollten teilhaben an seinem Glück, das keines ist. Otto leidet unter Einsamkeit, Ablehnung und einem Kulturschock. Zu groß ist der Kontrast zwischen dem ländlichen Schweden und dem lebhaften Wien mit seinen Konzerten, Sportveranstaltungen und Spaziergängen am Donaukanal. Doch Otto darf nicht klagen, er muss Dankbarkeit empfinden, wo Wut das vorherrschende Gefühl ist.

Erst spät findet er Freunde, darunter einen jungen Mann namens Ingvar Kamprad, der sich bei verschiedenen nazistischen Organisationen engagiert und ein großer Bewunderer des Faschisten Per Engdahl ist. Ein Widerspruch, den der Gründer von IKEA nie als einen solchen empfunden hat. Und Otto? Was er davon gewusst und gehalten hat, ist nicht bekannt. Er hat nur ungern über sein Leben gesprochen. Seine Eltern hat er nie wieder gesehen, sie wurden in Auschwitz ermordet.

Durch Elisabeth Åsbrinks Buch beginnen die Menschen auf den Fotos zu sprechen und sich zu bewegen. Sie erzählen uns von ihrem Glück und ihren Sorgen. Die Leserin tritt in die Bilder und ist ganz nah bei der Familie Ullmann, was nicht zuletzt Elisabeth Åsbrinks großem Einfühlungsvermögen, penibler Recherche und kluger Komposition des Stoffes geschuldet ist.


Cover Elisabeth Aasbrink, Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume

Elisabeth Åsbrink
Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume
Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek
ISBN 978-3-7160-2710-3
Arche Literatur Verlag