Ingvar Ambjørnsen – Die Nacht träumt vom Tag
An anstrengenden Tagen wird mir die Stadt manchmal zu viel. Das Klingeln der Handys, das Geschiebe der Menschen, das Wummern der Bässe aus dem Kopfhörer meines Sitznachbarn oder der ganz spezielle olfaktorische Mix aus nassem Hund, Duschgel, Parfüm und alten Socken. Dann spüre ich ein leichtes Kribbeln in den Beinen und das steigende Bedürfnis umgehend die Flucht zu ergreifen. Nichts wie weg hier, die Laufschuhe anziehen und ab in den Wald.
Sune, der Erzähler aus Ingvar Ambjørnsens Roman Die Nacht träumt den Tag kennt diesen Fluchtreflex und die Sehnsucht nach Einsamkeit seit seiner Kindheit. Als Erwachsener verlässt er Frau und Kinder und geht in die Wälder Nordnorwegens. Er bricht in fremde Hütten ein und lebt von den Vorräten, die die Eigentümer dort gelagert haben. Er liest ihre Bücher und „leiht“ sich ihre Kleidung. Sind die Vorräte aufgebraucht, wandert er weiter, riecht den Wald, spürt das eiskalte Wasser der Bäche und lauscht den Vögeln und dem Wind in den Bäumen. Das Leben könnte so schön und einfach sein.
Wenn da nicht die anderen Aussteiger und Flüchtlinge wären, die sich ebenfalls in die Wälder zurückgezogen haben und Sunes Weg kreuzen: Hustler und Wanda, die einen Biohof betreiben, Jack Hallstein, ein Rocker samt Familie, der 80jährige Thorbjørn, der auf den Tod wartet oder die Ärztin Gerda, die versteckte Illegale medizinisch versorgt. Und als wären das nicht schon genug Menschen, läuft Sune auch noch die verletzte Vietnamesin Vale zu, die er notgedrungen pflegt und bei seinen Wanderungen mitschleppt.
Bald ist Sune wieder eingebunden in eine Gemeinschaft, erledigt Freundschaftsdienste, fühlt sich verpflichtet. Da ist es kein Wunder, dass das altbekannte Kribbeln und Brodeln langsam aber sicher wieder in ihm aufsteigt.
Einige Wochen später stirbt der alte Thorbjørn und die Gemeinschaft beschließt eine Seebestattung. An Bord des Kutters zusammengepfercht mit der Mannschaft, den anderen Aussteigern, der Vietnamesin, dem Toten und einer Band, fragt Sune sich immer mehr, was ihn das eigentlich alles angeht. Die Geräusche werden lauter, die Eindrücke intensiver, die Menschen fordernder und als ein betrunkener Stein Skute sein platonisches Verhältnis zu Vale in Zweifel zieht, holt Sune zum Befreiungsschlag aus.
Die Nacht träumt vom Tag ist ein wunderbar poetisches Buch für das man sich Zeit nehmen sollte, damit der Text seine ganze Sinnlichkeit entfalten kann. Jedes einzelne Wort hat Ingvar Ambjørnsen so präzise ausgewählt und gesetzt, dass keines leichtfertig überlesen werden sollte, auch wenn das die Spannung ins Unerträgliche steigert. Grandios.
Ingvar Ambjørnsen
Die Nacht träumt vom Tag
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
ISBN 978-3-89401-788-0
Edition Nautilus