Sara Stridsberg – Das große Herz

Die Klinik Beckomberga ist hell und licht. Im Park stehen junge Birken, unter denen die Patienten zusammensitzen, um zu Rauchen und zu erzählen. Schmetterlinge tanzen durch das hohe Gras, während luftige Wolken langsam über den Himmel ziehen.

Jackie ist gerne hier. Fast täglich besucht sie ihren Vater, der nach mehreren epileptischen Anfällen und Selbstmordversuchen eingeliefert wurde und den alle nur Jimmy Darling nennen. Alkohol und Tabletten haben Jim an den Rand des Abgrunds getrieben. Aber weder er noch Jackie sind deshalb besorgt. Sie haben akzeptiert, das Menschen fallen können, heute, morgen oder irgendwann.

Osmose

In Beckomberga treffen die unterschiedlichsten Menschen aufeinander. Für alle ist die Klinik ein Schutzraum, der sie zwar vor der Welt da draußen abschirmt, dessen Mauern aber dennoch durchlässig sind. Die vierzehnjährige Jackie geht in der Klinik ein und aus, wie ihr beliebt. Und mit der gleichen Selbstverständlichkeit nimmt der Stationsarzt Edvard seine Patienten mit in das Nachtleben von Stockholm, in die Clubs und Bars, um zu Tanzen und zu Feiern. Ein großes Herz macht keinen Unterschied zwischen krank und gesund. Denn wer vermag schon genau zu sagen, wo der Psychiater aufhört und der Patient beginnt. Alle Grenzen sind fließend.

Auch für die Liebe stellt Beckomberga kein Hindernis dar, weder zu ihrem Vater, noch zu Paul. Paul, der so riesig und grob wirkt und doch so zarte Hände hat, die er Jackie um Kopf und Hals legt. Dessen Finger sanft über ihre Kehle streichen. Irgendwann später wird sie erfahren, dass Paul noch Sekunden bevor er seine Frau erwürgte, glaubte, niemals zu so einer Tat fähig zu sein. Für Jackie wird er die große und einzige Liebe ihres Lebens.

Schutzlos

1995 wird Beckomberga geschlossen. Dank neuer Psychopharmaka sind stationäre Klinikaufenthalte überflüssig geworden und die großen Krankenhäuser haben die Behandlungen übernommen. An einem Wintertag verlässt der letzte Patient die Klinik, klettert auf einen Sendemast und springt. Zu diesem Zeitpunkt ist Jim schon lange entlassen und aus dem Leben seiner Tochter verschwunden.

Für Jim und Jackie endet die Geschichte hier nicht. Jahre später, als Jackie selbst Mutter ist, wird Jim sie anrufen und sich erinnern. Seine Todessehnsucht hat Jim in all den Jahren nicht überwunden, aber auf seine Weise damit gelernt zu leben. Irgendwann wird er Schlaftabletten nehmen und aufs offene Meer hinausschwimmen, sagt er. Nur wann steht noch nicht fest. Jackie hört ihm geduldig zu. Sie hat immer noch ein großes Herz.

Sara Stridsberg schreibt mit einer poetischen Leichtigkeit, die den Text trotz seiner thematischen Schwere wie irisierende Seifenblasen schweben lässt. Der dunkle Inhalt ist von Licht und Luft durchwoben. Zu keinem Zeitpunkt habe ich beim Lesen Beklemmung oder Schwermut empfunden. Sara Stridsberg Art zu schreiben erinnert mich an zarte Aquarelle, deren Farbe durchscheinen und ineinander verlaufen, deren Konturen verwischen, die aber dennoch von einer atemberaubenden Klarheit sind. Wer erleben möchte, was mit Worten möglich ist, sollte dieses Buch unbedingt lesen. Ein großes Kompliment an die Übersetzerin Ursel Allenstein, die Lektüre war und ist ein sprachlicher Genuss.


Cover zu Sara Stridsberg, Das große Herz

Sara Stridsberg
Das große Herz
Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein
ISBN 978-3-446-25443-4
Carl Hanser Verlag