Niklas Natt och Dag – 1793

Niklas Natt og Dag 1793
Die Leiche im Fatburen

Wir schreiben das Jahr 1793. Während in Frankreich die Schreckensherrschaft auf ihren blutigen Höhepunkt zusteuert, zieht der Stadtknecht Mickel Cardell in Stockholm eine Leiche aus dem Fatburen. Dass ein Toter in dem stinkenden Sumpf treibt, ist an sich noch nichts Außergewöhnliches.
Höchst beunruhigen ist der Zustand der Leiche. Denn dem jungen Mann wurden zu Lebzeiten die Zähne ausgeschlagen, die Zunge herausgeschnitten und Arme und Beine amputiert. Eine Folter, die sich über Monate hingezogen haben muss – wie Cardell anhand der Wundränder feststellt.
Wer so eine Tat begeht, muss wesentlich klüger sein, als die üblichen Verbrecher – Geldfälscher, die nicht buchstabieren können oder Frauenmörder, die das Blut nicht von ihren Hämmern wischen. Nur eine Person mit messerscharfem Verstand wird so einen berechnenden Mörder stellen können – der ehemalige Jurist Cecil Winge.

Ein ungleiches Paar

Cecil Winge sträubt sich zunächst den Auftrag anzunehmen und verweist auf seinen schlechten Gesundheitszustand. Tatsächlich hat sich der Tuberkulosekranke bereits aus der Gesellschaft zurückgezogen. Seine restliche Zeit plant Winge nur noch mit dem Auseinander- und Zusammenbauen seiner Taschenuhr oder dem Lesen aufklärerischer Schriften zu verbringen. Allerdings reizt ihn der Fall doch zu sehr, um endgültig abzulehnen. Die seinerzeit noch ungewöhnliche Frage nach dem Motiv hat ihn schon immer umgetrieben.
Auch der grobschlächtige Cardell, der seine Kriegstraumata gerne in Alkohol ertränkt, will diesen Irren baumeln sehen. Nur zu gut kann er nachempfinden wie sehr der Tote gelitten haben muss. Die Phantomschmerzen in seinem Armstumpf quälen ihn schließlich Tag und Nacht.
Und so nimmt das ungleiche Paar die Fährte auf, die sie zu einem Edelbordell mit ganz besonderen Dienstleistungen führt.

Der Mann mit der Knochensäge

Soweit, so klassisch – bis sich der Autor entschließt, die beiden Ermittler in einer Sackgasse zurückzulassen und Ort, Zeit und Personal zu wechseln. In Briefen an seine tote Schwestern erzählt nun der Feldscher Johan Kristofer Blix von seiner Karriere als Hochstapler und Betrüger. Er berichtet, wie er sich mit Hilfe eines Freundes in höchste Kreise einschlich und einen mittellosen Adeligen mimte, der in Kürze ein Vermögen erben würde. Wie seine neuen Freunde ihm deshalb nur zu gerne große Beträge liehen. Unter seines gleichen muss man schließlich zusammenhalten. Und wie er seine Schulden bei dem einen Gläubiger durch geliehenes Geld von den anderen fristgerecht beglich, so dass niemanden auffiel, wie es um seine finanzielle Situation tatsächlich bestellt war. Und wie er schließlich selbst betrogen wurde und in die Hände eines Mannes fiel, der für seine Machenschaften dringend eines fähigen Feldschers bedurfte.

Das gefallenen Mädchen

Nein, nach diesem Einschub kehren wir immer noch nicht zu Cardell und Winge zurück, so gerne wir auch wüssten, wie die beiden den Fall lösen. Der Autor schickt uns erst ein weiteres Stück zurück in der Zeit und zwar in den Frühling des Jahres 1793.
Als die Hökerin Anna Stina den Heiratsantrag ihres Jugendfreundes ablehnt, wird sie von ihm vergewaltigt. Dass sie nein sagen könnte, lag vollkommen außerhalb seines Vorstellungsvermögens. Um ihn vor einer Anklage zu bewahren, bezichtigt seine Familie Anna Stina der Hurerei und sorgt dafür, dass die Häscher sie ins Spinnhaus werfen. Hier soll sie von ihren Sünden bekehrt und auf ein züchtiges Leben vorbereitet werden.
Von früh bis spät sitzen die Frauen an den Spinnrädern und arbeiten ihre Strafe in Form von Garnsträngen ab. Wer aufmuckt, wird von Aufseher Pettersson zum Tanz aufgefordert – den die meisten nicht überleben. Anna Stina lässt sich jedoch nicht brechen und findet einen Ausweg aus ihrer Misere. Sie wird später, so viel kann ich verraten, einen Feldscher namens Blix kennen- und lieben lernen, was wiederum nicht unwesentlich für die Lösung des Falles ist.

Die Seele des Mörders

Dann endlich im vierten Teil sind wir wieder bei Cardell und Winge, deren Ermittlungen nach einem Zufallsfund Cardells erneut ins Rollen gekommen sind. Nach einer für Winge fast tödlichen Reise durch Schnee und Eis und einem spektakulären Showdown in einem alten Gehöft, erfahren wir wer den jungen Mann so verstümmelt hat und warum. Und welcher gigantische Irrtum zu der Tat geführt hat. Wir erfahren auch, soviel sei verraten, dass Winge den Fall ohne seinen humanistischen Hintergrund vermutlich niemals hätte lösen können. Denn erst der Blick in die Seele des Mörders enthüllt ihm dessen wahre Identität.

»1793« von Niklas Natt och Dag ist ein großartiger Roman, der sich jeder Genreschublade verweigert. Er ist klug erzählt, hervorragend komponiert und voller perfider Haken und Überraschungen. Dank der saftigen Beschreibungen und der Detailfreude des Autors hat das Buch eine ungeheure Wucht. Die historischen Ereignisse und das Leben der einzelnen Personen sind überaus gekonnt miteinander verwoben. Wer diesen Roman liest, der wird nicht nur hervorragend unterhalten, sondern erfährt en passant auch viel über die schwedische Geschichte. Zum Beispiel wer um 1793 gegen wen intrigiert hat, welche politischen Ränke geschmiedet wurden und welches Rechtsverständnis damals herrschte. Dieses Buch ist wirklich ein äußerst intelligentes Lesevergnügen – aber nichts für schwache Nerven.

Niklas Natt och Dag
1793
Aus dem Schwedischen von Leena Flegler
ISBN 978-3-492-06131-5
Piper

Ebenfalls besprochen hat das Buch Vera Heine auf herzensbuecher.blog

Teilen:

3 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Ich hatte das Buch kürzlich in den Händen. Jetzt machst Du mich ganz schön neugierig darauf. Es wandert dann mal schnell auf meine Wunsch-Leseliste. Viele Grüße