Lars Mytting – Die Glocke im See
Die Sage von den Schwesterglocken
Irgendwann vor langer Zeit lebten auf dem Hekne-Hof zwei Schwestern, siamesische Zwillinge, an den Hüften zusammengewachsen. Halfrid und Gunhild hießen sie und Eirik Hekne war ihr Vater.
Aufgrund seiner guten Lage gehörte der Hekne-Hof zu den reichsten. Er war umgeben von fetten Wiesen, in der Nähe lag ein fischreicher Weiher und Eirik Hekne besaß Silberbesteck für mindestens achtzehn Personen. Die beiden Schwestern mehrten den Wohlstand des Hofes noch. Auf ihrem Webrahmen schufen sie meisterhafte Bildteppiche, die weit über Butangen hinaus begehrt waren.
Eines Tages jedoch wurde eine der beiden Schwestern todkrank und Eirik Hekne betete zu Gott, er möge beide Schwestern zu sich nehmen, damit nicht eine mit der toten Schwestern an ihrer Seite weiterleben müsse. Eirik Heknes Gebete wurden erhört. Und so webten die beiden Schwestern mit letzter Kraft den legendären Kratzenacht-Teppich und starben. Aus Dank und Trauer ließ Eirik Hekne zwei Glocken aus seinem gesamten Silber gießen und stiftete sie der Kirche.
Von da an ging es bergab mit Hekne und dem gesamten Kirchspiel. Missernten, Überbevölkerung, Hochwasser und Alkoholismus ließen die Einwohner von Butangen verarmen. Die Höfe und die ehemals so prächtige Stabkirche verfielen. Nur die beiden Schwesterglocken riefen zuverlässig jeden Sonn- und Feiertag zum Gebet und warnten die Einwohner vor Gefahr. Dann erklangen sie, ohne dass irgendjemand sie hätte läuten müssen.
Der Pfarrer hat eine Idee
So vergingen die Jahre und Jahrhunderte. Bis am Neujahrstag 1880 die alte Klara während des Gottesdienstes erfriert und der neue Pfarrer der Gemeinde genug von der alten zugigen Kirche hat. Auch die heidnischen Schnitzereien, die Drachen und bärtigen Männer, sind Kai Schweigaard schon lange ein Dorn im Auge. Butangen braucht eine neue moderne Kirche. Und er hat auch schon eine Idee, wie sich das bewerkstelligen lässt.
Im Frühjahr des gleiches Jahres, der Boden ist endlich soweit aufgetaut, dass die alte Klara und alle anderen Toten begraben werden können, taucht in dem Dorf ein Deutscher auf, der eine Staffelei aufstellt und die Kirche zu zeichnen beginnt.
Astrid Hekne, eine Nachfahrin der beiden Schwestern, ist fasziniert. Schon lange träumt sie von einem Leben außerhalb der engen Grenzen Butangens. Zwei Heiratsanträge hat sie zum Leidwesen ihrer Eltern schon abgelehnt. Allein die Vorstellung für den Rest ihres Lebens an einen Hof gebunden zu sein, ein Kind nach dem anderen zu gebären und irgendwann tot über dem Waschzuber zusammenzubrechen, lässt sie schaudern.
Wissenshungrig ist Astrid, neugierig und klug. Das hat auch der Pfarrer Kai Schweigaard schon bemerkt. Deshalb steckt er ihr ab und an eine seiner alten Zeitungen zu. Als Dank für die wertvollen Tipps, die Astrid ihm im Umgang mit den Dorfbewohnern gibt, deren Verhalten für den Stadtmenschen Kai häufig unverständlich ist. Bald entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden und für Kai ist es bald mehr.
Gerhard Schönauer, der Architekturstudent aus Dresden, übt jedoch eine ganz andere Anziehungskraft auf Astrid aus. Er zeigt ihr die Welt in seinen Zeichnungen und weckt bei Astrid das Verlangen, an seiner Seite durch Dresdens Straßen zu flanieren und die Gaslaternen zu bestaunen. Auch Gerhard verliebt sich in Astrid, sehr zum Missfallen von Kai Schweigaard.
Ein gewagtes Unterfangen
Bevor aber überhaupt an Heirat und Reise zu denken ist, muss Gerhard das tun, weshalb er nach Butangen entsendet wurde – die Stabkirche zeichnen, vermessen und alles für den Umzug nach Dresden vorbereiten.
Denn Kai Schweigaard hat die alte Kirche an die Kunstakademie in Dresden verkauft, um Geld und Platz für eine neue zu schaffen.
Als Astrid bei einem Besuch im Pfarrhaus die Pläne für die neue Kirche entdeckt, ist sie entsetzt. Der Glockenturm ist viel zu klein für die beiden Schwesterglocken, die das Dorf beschützen und Teil ihrer Familiengeschichte sind. Kai Schweigaard muss sie ebenfalls an die Deutschen verkauft haben.
So sehr sich Astrid auch nach einem Leben außerhalb des Dorfs sehnt, so sehr ist sie doch ihrer Familie und dem Hof verbunden. Die Schwesterglocken müssen in Butangen bleiben, daran besteht für sie kein Zweifel.
Und so erzählt Astrid Gehard, dass die Schwesterglocken der Sage nach von keinem Mann betrachtet werden dürften und sie deshalb vor ihrer Reise von einer Hekne-Frau mit Leinen umwickelt werden müssten. Und nur diese Hekne-Frau dürfe auch die Glocken wieder enthüllen sobald sie in der wiedererrichteten Kirche aufgehängt worden seien. Natürlich hat Astrid auch schon eine Idee, wer dieses Hekne-Frau sein könnte.
Nachklang
Der deutsche Titel, »Die Glocke im See« verrät schon, dass der Umzug der Kirche nicht reibungslos von statten geht und weder Kais, noch Gerhards, noch Astrids Pläne aufgehen. Die Natur, auch die menschliche, legt ihnen Steine in den Weg und verhindert ein glückliches Ende. Vorerst, denn der Roman schließt mit einer Prophezeiung und der Ankündigung eines zweiten Bandes. Die Familiengeschichte der Heknes wird fortgesetzt.
Ich muss gestehen, dass dies eigentlich nur ein flüchtige Skizze des Romans ist, so wie Gerhard Schönauer sie vielleicht mit ein paar Strichen auf ein Blatt geworfen hätte. Lars Mytting erzählt soviel mehr, von Gottesfürchtigkeit und Aberglaube, von einer Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne und nicht zuletzt von einer sehr starken und mutigen Frau.
Der Roman ist ein groß angelegter Bildteppich, in dem jede Figur, jeder Ort bis ins kleinste Detail ausgestaltet ist – ohne überbordend zu wirken.
Dieser Roman klingt ob seiner Fülle und Andeutungen noch lange nach. Ich jedenfalls bin schon sehr gespannt, wie die Geschichte der Schwesterglocken weiter geht.
Auch sehr zu empfehlen: Lars Mytting – Die Birken wissen’s noch
Eine weitere Rezension zu »Die Glocke im See« ist auf dem Blog Zeichen & Zeiten zu lesen.
Lars Mytting
Die Glocke im See
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
ISBN 978-3-458-17763-0
Insel Verlag
2 Antworten zu „Lars Mytting – Die Glocke im See“
Danke für die schöne Rezension. Ich bin froh, Deinen Blog gefunden zu haben, da ich immer auf der Suche bin nach Literatur aus Skandinavien.
Danke gleichfalls, auch fürs Vernetzen. Ich freu mich schon darauf von Dir zu lesen.