Majgull Axelsson – Ich heiße nicht Miriam

Laut einem renommierten Gehirnforscher treffen wir ca. 20.000 Entscheidungen pro Tag, viele davon unbewusst. Es können schnelle Entscheidungen sein, kluge und mutige. Manche Entscheidungen treffen wir ganz rational, manche aus dem Bauch heraus. Einige sind endgültig, andere können wir noch einmal überdenken. Nicht immer haben wir die Freiheit selbst zu entscheiden oder unsere Entscheidungen haben weitreichende Konsequenzen. So wie bei Miriam, die eigentlich gar nicht Miriam heißt.

In einem Güterzug der tausende Frauen nach Ravensbrück deportiert, zerreißen gierige Hände das Kleid der Romni Malika. Ein winziges Stück Brot in ihrer Faust hat die hungrigen Frauen in Furien verwandelt. Malika gelingt es zwar mit knapper Not nicht erdrückt zu werden, aber das zerfetzte Kleid wird ihr Todesurteil sein. Die Nazis legen viel Wert auf korrekte Kleidung. Als der Zug hält und die Frauen nach draußen drängen, stolpert Malika über eine tote Jüdin. Rasch tauscht sie ihr eigenes Kleid gegen das der Toten und aus der Romni Malika die Jüdin Miriam.

Die Entscheidung, »sich selbst das Recht auf eine eigene Geschichte zu verweigern« trifft Miriam mehr als einmal im Laufe ihres Lebens. Im Lager merkt sie schnell, dass sie als Jüdin unter den Gefangenen einen besseren Stand hat als als Romni. Und das ist überlebenswichtig. Auch die Norwegerin Else, die Miriam im Lager unter ihre Fittiche nimmt und ihr einen der begehrten Arbeitsplätze als Näherin verschafft, äußerst sich verächtlich über die »Zigeuner«. Also hält Miriam den Mund.

Miriam überlebt dank Else und ihren norwegischen Freundinnen Ravensbrück knapp. Sie kann ihre Typhuserkrankung verheimlichen und einen Platz in den weißen Bussen ergattern, die sie über Dänemark nach Schweden bringen. Nach ihrer Genesung kommt Miriam bei der alleinstehenden Hanna in Jönköping unter. Auch hier lernt sie schnell, dass die Roma in Schweden nicht gerade wohlgelitten sind. Eines Abends im Sommer 1948 während der Zigeuner-Krawalle wird sie aufgrund ihrer dunklen Haare von ein paar Jugendlichen zusammengeschlagen. Wieder hat Miriam allen Grund ihre wahre Identität zu verheimlichen.

Auch Jahre später als sie mit Hannas Bruder Olof verheiratet ist und seinen Sohn Thomas großzieht, sagt sie nichts. Erst als ihre Enkelin Camilla ihr zum 85. Geburtstag ein Armband schenkt in das ihr Name eingraviert ist, bricht es aus ihr heraus: »Ich heiße nicht Miriam«.
Und endlich gestattet sich Miriam von Malika zu erzählen, von Auschwitz und Ravensbrück, von ihrem kleinen Bruder Didi, den sie nicht vor Mengele und seinen Experimenten retten konnte, von der brutalen Aufseherin Irma Lunz und ihrem Schäferhund und von Else, die wenige Tage vor der Befreiung des Lagers am Fleckfieber starb.

Majgull Axelsson hat mit »Ich heiße nicht Miriam« einen berührenden Roman geschrieben, der die manchmal haarfeinen Grenzen zwischen Leben und Überleben, zwischen Wahrheit und Lüge sensibel auslotet. Es sind Miriams viele Entscheidungen gegen ihre eigene Geschichte, die dieses Buch so beklemmend und traurig machen und in gewisser Weise zeitlos. Denn wer kennt nicht die Gefühle von Hilflosigkeit, Wut und Resignation, die aus erzwungenen Entscheidungen entstehen.


Cover Majgull Axelsson, Ich heisse nicht Miriam

Majgull Axelsson
Ich heiße nicht Miriam
Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt
ISBN 978-3-471-35128-4
List Verlag