Marie Hermanson – Der unsichtbare Gast

Wenn ich mir dringend etwas gönnen muss, gehe ich in eine Buchhandlung, streife durch die Abteilungen, lasse meinen Blick über die Regale wandern, streiche mit den Fingerspitzen über Cover, lese Klappentexte und warte darauf, dass eines der vielen Bücher mich anspringt und ruft: »Kauf mich, kauf mich, mich allein. Du wirst es nicht bereuen, wir werden eine wunderbare Zeit miteinander haben. Ganz bestimmt!«

»Der unsichtbare Gast« von Marie Hermanson hat dieses Versprechen mehr als gehalten. Ich habe es an einem trüben Novembernachmittag in einem Rutsch durchgelesen. Dem unterschwelligen Grauen dieser Sommergeschichte konnte ich mich nicht mehr entziehen. Und so bin ich seit langem wieder vollständig in einem Buch versunken.

Die hochbetagte Florence Wendman ist geistig und seelisch in den 1940er Jahren stehen geblieben. Damals war sie 19 Jahre alt und ihr Vater ein angesehener Diplomat in Kairo. Deshalb veranstaltet sie wie die berühmte Miss Sophie aus »Dinner for One« auf ihrem Gut Glimmenäs Festessen für längst verblichenen Freunde, assistiert von ihrer jungen Haushälterin Tessan, die dieses Spiel nur allzu gern mitspielt. Immerhin hat sie auf Gut Glimmenäs freie Kost und Logie, erhält Lohn und kann tun und lassen was sie will. Eine bessere Stelle wird sie in Uppsala ohne Schulabschluss nicht finden und einen reichen Mann, der ihr das ersehnte Pferd schenkt, vermutlich auch nicht.

Ihre Freundin Martina hat ähnlich trübe Zukunftsaussichten. Mangels anderer Jobs putzt sie Hotelzimmer im Akkord. Als sie aus ihrer Wohnung fliegt, ist Tessans Angebot nach Glimmenäs zu ziehen sehr willkommen. Auch Martina gewöhnt sich schnell an das komfortable Leben bei Tante Florence, die Martina kurzerhand als Sekretärin anstellt. Sogar der Abschied von Jeans und T-Shirt fällt Martina nicht schwer. Florences Kleider aus den 40ern, die beide Mädchen tragen müssen, gefallen ihr sehr.

Die dritte im Bunde wird Judit, ein anorektisches Mädchen, dass Tessan und Martina aus einem verunfallten Auto ziehen. Judit übernimmt auf Gut Glimmenäs die Rolle eines jüdischen Flüchtlings, den es aufzupäppeln gilt. Über Nacht liest sie sich in der Bibliothek eine Biografie an. Wer sie wirklich ist, erzählt sie nicht.

Auf einem Ausflug lernen Tessan und Martina Pontus und Andreas kennen, ebenfalls gescheiterte Existenzen. Pontus’ Werbeagentur ist hochverschuldet und Andreas findet weder als studierter Biologe noch als ausgebildeter Webdesigner einen Job. Seinen Studienkredit kann er schon lange nicht mehr abbezahlen. Florence stellt auch diese beiden an und so verbringen alle fünf einen Sommer voller Leichtigkeit, der ihrer Meinung nach nie enden müsste. Da steht schnell die Frage im Raum, wie man Florence wohl eines Tages beerben könnte?

Als Pontus zufällig Florences Testament findet, eröffnet sich ihnen einen ungeahnte Möglichkeit. Der Haupterbe Carl Henrik Gyllenmård ist einem alten Ölgemälde nach zu urteilen längst verstorben. Also wird die Wendman’sche Gesellschaft erben, deren Gründungsmitglieder ebenfalls längst verblichen sind. Was also liegt näher, als diese Gesellschaft wieder ins Leben zurufen und sich eine sorglose Zukunft zu sichern? Gesagt getan, doch dann steht plötzlich Carl Henrik Gyllenmård in der Tür und beansprucht alles für sich.

»Der unsichtbare Gast« ist eine moderne Gothic Novel in der Tradition von »Jane Eyre« und »Sturmhöhe«. Selbst ein verbotenes Zimmer gibt es auf Gut Glimmenäs und ein dunkles Geheimnis in Florences Vergangenheit. Aber trotz aller Dramatik, Gänsehaut und Tragik übt der Roman auch leise Kritik an der Leistungsgesellschaft, die keine Fehler in der Lebensplanung zulässt und eine zweite oder dritte Chance nicht vergibt. Für mich ist »Der unsichtbare Gast« ein rundherum gelungener Roman und ich habe die Lektüre mehr als genossen, zumal ich Bücher dieses Genres in den letzten Jahren schmerzlich vermisst habe. Wie gut, dass es noch mehr Bücher von Marie Hermanson gibt. Ich muss nachher ganz dringend in eine Buchhandlung.


Cover Marie Hermanson, Der unsichtbare Gast

Marie Hermanson
Der unsichtbare Gast
Aus dem Schwedischen von Regine Elsässer
ISBN 978-3-458-17648-0
Insel Verlag