Gøhril Gabrielsen – Die Einsamkeit der Seevögel
Am Ende der Welt
Sie hat eine Entscheidung getroffen – für die Forschung und gegen ihr Kind. Für ein paar Monate wird sie in einer alten Fischerhütte in der Finnmark meteorlogische Daten sammeln und den Einfluss des Klimas auf die Seevögelpopulation untersuchen. Ein Vorhaben von wesentlicher Bedeutung – das zumindest redet sie sich ein.
Über 100 km von jeglicher Zivilisation entfernt ist sie hier und ganz alleine, letzteres war allerdings nicht so geplant. Eigentlich sollte Jo nun neben ihr am Schreibtisch sitzen. Er würde Artikel schreiben und sie Messdaten in Excel-Tabellen eintragen, so hatte sie es sich immer vorgestellt – bis Jo meinte seine Tochter Marie in der augenblicklichen Situation nicht alleine lassen zu können. Seine Ex-Frau hätte derzeit einen wichtigen Auftrag und könne sich nicht um das gemeinsame Kind kümmern, aber in wenigen Wochen würde er nachkommen und bei ihr sein.
Einsamkeit und Psyche
Bis zu Jos Ankunft wollen sie an jedem dritten Tag skypen. Eine Verabredung, die ihr Sicherheit gibt, behauptet sie. Denn falls eine Verbindung nicht zustande käme, herrschten entweder widrige Wetterverhältnisse oder ihr sei etwas zugestoßen. Sie kann sich also sehr sicher sein, dass sich Jo Sorgen machen wird – und vielleicht sogar ein schlechtes Gewissen bekommt.
Ein erster Hinweis auf ihre eigentliche Motivation, sich in das nördlichste Norwegen zurückzuziehen. Und auf ihren psychischen Zustand.
Eines Nachmittags stößt sie beim Durchforsten der Regale auf eine heimatgeschichtliche Broschüre, die von einer Tragödie berichtet, welche sich vor 140 Jahren an dem Ort, an dem sie sich gerade befindet, zugetragen hat. Damals lebten hier Olaf und Borghild Berthelsen mit ihren fünf Töchtern und einem Sohn. Bei einem Brand verliert das Paar Haus und Hof und den Sohn Nils. Ein Jahr später ereignet sich eine weitere Tragödie. Was, das verschweigt die Broschüre allerdings.
Tragödien
Stundenlang malt sie sich nun aus, wie das Leben der Eheleute damals war, wie verliebt die beiden sicher waren. Wie sie alles zusammen aufbauten, sich über ihre Kinder freuten und vor einer arbeitsreichen, aber glücklichen Zukunft standen – bis zu dem Brand, der, verursacht durch Borghilds Unachtsamkeit, alles zerstört. Mit der Zeit wird die erfundene Geschichte in ihrem Kopf immer realer und wirklicher. Sie meint Borghilds Anwesenheit in der Hütte zu spüren, glaubt sie in der Abenddämmerung durchs Fenster zu sehen. Sogar ihre Messdaten scheinen aus dem Jahr 1870 zu stammen und ihre Fotografien die damalige Landschaft abzubilden.
Sie spürt, wie ihr die Realität zu entgleiten droht. Als Wissenschaftlerin ist sie das Analysieren und Erforschen von Zuständen gewohnt. Mit ihrem scharfen Verstand registriert sie ihre Aussetzer, analysiert ihren körperlichen Verfall. Sie findet Erklärungen, vermutlich hat sie eine Lebensmittelvergiftung, oder glaubt im Fieberwahn Dinge getan und danach vergessen zu haben. Aber obwohl sie sich ihrer prekären Situation bewusst ist und sich selbst auf die Liste gefährdeter Arten setzt, triumphieren doch ihre Emotionen über ihren Verstand. Trotz aller Selbsterkenntnis gleitet sie in ihrer Einsamkeit immer weiter ab. Am Ende steht die Angst vor dem, was dort draußen vor der Tür ist und mit lautem Klopfen Einlass begehrt.
Was ist real?
Gøhril Gabrielsens Roman »Die Einsamkeit der Seevögel« hat eine schon fast unheimliche Sogwirkung. Das Buch ist Schauerroman, Krimi und Psychothriller zugleich, aber ohne jegliche Klischees. Logische Brüche, Andeutungen und vor allem, das was nicht erzählt wird, erzeugen eine ungeheure Spannung und Verunsicherung. Was kann man der Erzählerin eigentlich noch glauben und was nicht? Welche Informationen über ihren besitzergreifenden Ex-Mann könnten stimmen, welche nicht? Sind die Schritte vor der Tür Einbildung oder nicht? Wer weiß.
Sowenig wie sich die Erzählerin mittels ihres scharfen Verstandes aus ihrer emotionalen Krise zu befreien vermag, kann sich die Leserin auf ihre Schlüsse und analytischen Fähigkeiten verlassen. Man ist beim Lesen tatsächlich der Autorin und der Erzählerin komplett ausgeliefert. Diese Leseerfahrung hat mich ungeheuer fasziniert.
Gøhril Gabrielsen ist meiner Meinung nach eine hervorragende und vor allem mutige Erzählerin, die sich traut, ihrer Leserschaft etwas zuzumuten. Ich hoffe sehr, dass sich noch viele auf dieses Buch einlassen. Es ist übrigens die perfekte Lektüre für die Zeit der Herbst- und Winterstürme, wenn der Wind ums Haus heult, die Kerzenflamme im Luftzug flackert und die Blätter waagerecht am Fenster vorbeifliegen.
Eine weitere begeisterte Rezension gibt es auf dem Blog Zeichen & Zeiten.
Gøhril Gabrielsen
Die Einsamkeit der Seevögel
Aus dem Norwegischen von Hanna Granz
ISBN 978-3-458-17780-7
Insel Verlag
2 Antworten zu „Gøhril Gabrielsen – Die Einsamkeit der Seevögel“
Das Buch liegt schon bereit. Ich freue mich sehr darauf, gerade auch nach Deiner wunderbaren Besprechung. Allerdings habe ich die merkwürdige Gewohnheit, Bücher, auf die ich gespannt bin, noch ein Weilchen vor mir herzuschieben, als ob ich sie aufsparen will. Viele Grüße
Vielen lieben Dank. Das mit dem Aufsparen kommt mir sehr bekannt vor. Fosnes Hansens »Et hummerliv« steht seit drei Jahren bei mir im Regal und wartet darauf gelesen zu werden. Das Vergnügen habe ich noch vor mir. Viele Grüße