Jóanes Nielsen – Die Erinnerungen

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Ein Grab wird geschändet, eine Masernepidemie bricht aus, ein Vater wird ermordet, eine Moschee vererbt und färöische Familiengeschichten erzählt.

Anfangs habe ich mich beim Lesen dieses Buches gefühlt wie eine Fremde auf einer Familienfeier. Alle scheinen die Geschichten und Anekdoten über Tante, Bruder, Ehefrau, Cousine zu kennen. Jede weiß, wer mit wem und wann und wo und kann den Faden der Erzählung mühelos aufgreifen und daran anknüpfen. Nur ich nicht.
Aber je länger ich lese, desto besser gelingt es mir, die einzelnen Kapitel zu einem Ganzen zusammenzufügen und die richtigen Zusammenhänge herzustellen.  Ich brauche nur etwas Geduld.

Und je geduldiger ich lese, desto häufiger zeigt sich die eigenwillige und abgründige Schönheit dieses Romans. Ich mache die Erfahrung, dass ich nicht alles sofort in einen Kontext setzen muss, um Vergnügen an der Lektüre zu finden. Im Gegenteil. Mir gefällt, dass der Erzähler mich zwingt, jedes Wort erst einmal so zu nehmen, wie es da steht, die innere Analystin auszublenden und mich auf den Text zu konzentrieren.

1846 schleppen dänische Seeleute die Masern ein. Da die Menschen auf den Färöern teilweise  unter sehr ärmlichen Bedingungen leben, sterben viele an der Krankheit. Der Arzt Napoleon Nolsøe ist machtlos. Gegen Masern gibt es kein Heilmittel. Er kann nur raten, die Kranken so gut wie möglich zu pflegen. Unterlassene Hilfeleistung nennt dies 140 Jahre später Stadtratspolitiker Eigil Tvibur und pinkelt auf Napoleons Grab.

Das Leben auf den Färöern ist rauh, das Schicksal unerbittlich. Wer nicht resignieren will, wendet sich Poesie und Gewalt zu. Tóvó, aus dem Geschlecht der vermeintlich zauberkundigen Brahmadellen, liest Walt Whitman und kastriert einen Widersacher. Eigil schreibt an einem Roman und schlägt einen Journalisten zusammen. Napoleon Nolsøe findet für den Tatbestand der Verschwörung so herrliche Bezeichnungen wie, »Schlafwandelei an steiler Felswand« oder »unergründliche Mathematik der Seele«.

Und alle sind irgendwie auf die eine oder andere Art und Weise miteinander verbunden. Eigils Vorfahre, Niels Tvibur, wird der Ziehvater von Tóvó. Er hinterlässt Tóvó die »Moschee«, in der Eigil 140 Jahre später seinen Roman schreibt. Tóvó wiederum arbeitet eine zeitlang bei Napoleon als Knecht, bevor er in See sticht und im Zuchthaus landet.
Dies ist allerdings nur ein winziger Teil des Beziehungsgeflechtes, dass sich über 200 Jahre färöischer Geschichte und 412 Seiten Roman erstreckt. Die Verbindungen und Verknüpfungen sind zu vielfältig, um sie hier auch nur ansatzweise abbilden zu können.

Es lohnt sich wirklich, sich auf dieses ungewöhnliche Buch einzulassen, vor allem, wenn man einen lakonischen Erzählstil mit drastischen Handlungen vor der geschichtlichen Kulisse der Färöer und Dänemark zu schätzen weiß.


Cover Joanes Nielsen, Die Erinnerungen

Jóanes Nielsen
Die Erinnerungen
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
ISBN 978-3-442-75433-5
btb Verlag

2 Antworten zu „Jóanes Nielsen – Die Erinnerungen“

  1. Als die Vorschauen der Verlage eintrudelten, landete dieser Titel auf der Wunschliste, weil die Inhaltsangabe spannend zu lesen war und ich die Färöer Inseln auch als kommendes Reiseziel in Erwägung ziehe, angesichts ihrer einmaligen Landschaft und meiner Vorliebe für den Norden. Dann las ich allerdings eher kritische Stimmen. Nun kommt Deine wunderbare Besprechung, so dass der Roman es nun wieder in die engere Auswahl geschafft. Vielen Dank und viele Grüße

    1. Vielen lieben Dank. Ich muss gestehen, dass ich aufgrund des Covers und des Klappentextes tatsächlich eine andere Geschichte erwartet hatte. Von dieser Haltung musste ich mich erstmal verabschieden, um die Lektüre zu genießen. Aber es hat sich gelohnt. Ich bin gespannt, wie es Dir gefällt, falls Du es liest.
      Viele Grüße