Monica Kristensen – Amundsens letzte Reise

Verschollen im ewigen Eis

Am 18. Juni 1928 startete Roald Amundsen in Tromsø mit dem französischen Flugboot Latham 47-II in Richtung Spitzbergen. Es galt seinen Rivalen Umberto Nobile zu retten, der mit seinem Luftschiff »Italia« nach der Überquerung des Nordpols havariert war.
Gegen 18 Uhr sendete Roald Amundsen noch einen Funkspruch. Dann verschwand die Latham von der Bildfläche. Fortan suchten sämtliche Rettungsmannschaften nicht nur nach Nobile, sondern auch nach Amundsen.

Als ein Fischer Wochen später einen Schwimmer der Latham birgt, wird die Suchaktion eingestellt. Die Latham musste abgestürzt und Amundsen tot sein. Schon am nächsten Tag druckten alle großen Zeitungen seitenlange Nachrufe und huldigten dem norwegischen Nationalhelden.

Vorsichtige Zweifel

Nicht alle glaubten jedoch an einen Absturz des Flugbootes. Bearbeitungsspuren an dem Schwimmer und einem später gefundenen Benzintank ließen auch andere Schlüsse zu.
Diese Theorien jedoch zu überprüfen war mangels wichtiger Informationen nahezu unmöglich. Denn Amundsen hatte seine Pläne zur Rettung Nobiles keinem mitgeteilt. Niemand wusste, welche Route er nehmen wollte, niemand wieviel Benzin er gebunkert hatte, von technischen Details der Latham mal ganz abgesehen.

Ruhm und Ehre

Als die »Italia« havarierte, hatte sich Amundsen bereits aus dem aktiven Expeditionsleben zurückgezogen.
Zwei Jahre zuvor war er wegen einer Krebserkrankung behandelt worden und auch die Verletzungen, die er sich bei der Durchquerung der Nordostpassage zugezogen hatte, machten ihm immer noch zu schaffen.
Außerdem war die Zeit der zähen Männer, die sich monatelang mit Hundeschlitten durch das Eis quälten, schlicht vorbei. Die neuen Helden suchten ihre Herausforderungen in der Luft, brauchten höchstens Wochen oder Tage für ihre Taten und trugen elegante Anzüge statt Pelzmützen.

Tatsächlich hatte sich eine regelrechte Expeditionsindustrie entwickelt. Immer schneller wurde ein Rekord nach dem anderen eingestellt. Der Sieger von heute war morgen schon Geschichte.
Monica Kristensen schildert in »Amundsens letzte Reise« sehr eindrücklich, wie der verunglückte »Italia«-Expeditionsleiter Nobile zu einer regelrechten Trophäe wurde, die es zu erringen galt. Wer ihn rettete, würde alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Auch die Motive der Regierungen, die Rettungsexpeditionen entsendeten, waren nicht uneigennützig. Norwegen wollte seine Vormachtstellung auf Spitzbergen behaupten und die anderen Nationen ihr Interesse an der Region bekräftigen. Tatsächlich ging es um sehr viel mehr, als die Überlebenden der »Italia« zu bergen.

Vor diesem Hintergrund muss auch Amundsens Beteiligung an der Rettungsaktion betrachtet werden. Die norwegische Regierung hatte Amundsen zwar nach Bekanntwerden der »Italia«-Havarie zu einer Konferenz eingeladen, die Leitung der norwegischen Expedition wurde ihm jedoch nicht übertragen. Ein anderer hatte längst valide Pläne entwickelt und ihre Umsetzung in die Hand genommen – der Pilot Hjalmar Riiser-Larsen.

Amundsens Alleingang

Amundsen fühlte sich verraten und war gekränkt. Er hatte einen Ruf zu verlieren. Hinzu kam, dass ihn enorme Schulden belasteten. Eine weitere Heldentat hätte ihm auch ökonomisch geholfen. Diese Schulden standen gleichzeitig seiner eigenen, private Expedition im Weg. Die beste Maschine für einen Flug ins Nordpolarmeer, eine Dornier Wal, konnte er sich schlicht nicht leisten, zumal auch sein treuer Sponsor Lincoln Ellsworth diesmal zögerte. Die einzige Chance, die ihm blieb, war das Angebot der französischen Marine – die Latham 47 – ein Flugzeug, das nicht auf Eis landen konnte.

Das Lager am Kap Platen

Was nach dem Start der Latham am 18. Juni wirklich geschah, ist bis heute unbekannt. Es ist allerdings sehr wahrscheinlich, dass Amundsen an diesem Tag nicht starb. Es ist ebenfalls sehr wahrscheinlich, dass die Latham nicht über dem Polarmeer abstürzte und versank.

1935 entdeckten zwei Studenten aus Oxford am Kap Platen die Überreste eines Zeltlagers. Sie fanden italienische Dokumente in Konservendosen, ein Stück gummierten Baumwollstoff, wie er für Luftschiffe verwendet wurde, Schokoladenpapier und trockenes Brot. Die »Italia«-Expedition hatte aber kein Brot an Bord, Amundsen schon. Hatte er also den Ballon gefunden, der nach der Havarie mit sechs Männern davon geflogen und spurlos verschwunden war?

Die Suche nach des Rätsels Lösung

Monica Kristensen, selbst Glaziologin und renommierte Polarforscherin, rekonstruiert anhand bekannter und neuentdeckter Fakten, was vermutlich nach dem letzten Funkspruch geschah. Dazu hat sie Museen in ganz Europa besucht, Dokumente in den entlegensten Archiven aufgespürt und eine unglaubliche Menge an Informationen und Fakten gesammelt. Besonders die Entdeckung der Aufzeichnungen des englischen Studenten muss elektrisierend gewesen sein.

»Amundsens letzte Reise« ist ein Sachbuch, das der Leserin eine Flut an Informationen, Daten und Namen zumutet. Die Lektüre erfordert schon ein gerütteltes Maß an Konzentration, um nicht den roten Faden zu verlieren, zumal die Autorin immer wieder erklärende Exkurse einstreut. Mich hat sehr beeindruckt, dass es ihr trotzdem gelingt, die Spannung und Neugier auf des Rätsels mögliche Lösung aufrecht zu erhalten. Wer wie ich von Polarexpeditionen und ungelösten Rätseln fasziniert ist, wird seine helle Freude an dem Buch haben.

Sehr empfehlenswert ist auch »Die Expedition« von Bea Uusma
Weitere Besprechungen dieses Titels gibt es Bokblogg Punktslut und Zeichen & Zeiten.


Cover Monica Kristensen, Amundsens letzte Reise

Monica Kristensen
Amundsens letzte Reise
Aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt
ISBN 978-3-442-75782-4
btb Verlag

2 Antworten zu „Monica Kristensen – Amundsens letzte Reise“

  1. Sowohl „Amundsen letzte Reise“ wie „Die Expedition“ sind sehr spannende Bücher! Noch ein Buchtipp zum Thema: „Ingenjör Andrées luftfärd“von Per-Olov Sundman

    1. Vielen Dank für den Tipp. Den Titel werde ich mir merken und bei Gelegenheit besorgen.