Vigdis Hjorth – Bergljots Familie

Manche Familien sind wie ein See. Oberflächlich scheint alles ruhig und still. Aber unten in der Tiefe wartet Ungeheuerliches darauf ans Tageslicht zu gelangen. Stürzt ein Fels in diesen See, überrollen die Wellen alles und jeden. Dann wird Schlamm aufgewühlt und keine hat eine Chance zu entkommen. Dieses Bild jedenfalls hatte ich vor Augen, als ich Vigdis Hjorths Roman »Bergljots Familie« gelesen habe.

Bergljot ist Mitte Vierzig und voller Wut und Hass auf ihre Familie. Vor Jahren schon hat sie mit ihren Eltern gebrochen und den Kontakt auf ein Minimum reduziert. Nur ihren eigenen Kindern zuliebe geht sie ans Telefon wenn ihre Mutter anruft. Schließlich will sie ihnen nicht die Großeltern nehmen. Und immer ist auch ein Funken Hoffnung dabei, dass ihre Eltern endlich zugeben, was sie ihr damals im Alter von fünf Jahren angetan haben. Aber den Eltern ist nichts wichtiger als den Anschein einer heilen Familie zu bewahren, um jeden Preis.

Die Fassade beginnt jedoch zu bröckeln, als es nach dem Tod des Vaters um die Aufteilung des Erbes geht. Bergljots älterer Bruder Bård fühlt sich von seinen Schwestern Astrid und Åsa übervorteilt und sucht ausgerechnet Unterstützung bei Bergljot, die eigentlich auf Distanz bleiben möchte. Aber je länger der Streit dauert, je mehr Anschuldigungen erhoben und je mehr Wunden aufgerissen werden, desto größer wird Bergljots Bedürfnis Klartext zu reden und ihre Schwestern davon zu überzeugen, dass ihr Vater sie, Bergljot, missbraucht hat, auch wenn ihr die Beweise fehlen. Sie will, dass Astrid und Åsa ihr glauben und nicht den Eltern; ihrer unbeschwerten und liebevollen Kindheit zum Trotz. Dazu ist Bergljot fast jedes Mittel recht.

Vigdis Hjorths Roman heißt im Original »Arv og miljø«, wörtlich übersetzt »Vererbung und Umwelt«, was die Grundannahme des Romans meines Erachtens sehr gut trifft. Niemand, weder die Ich-Erzählerin Bergljot noch ihre Geschwister, können sich von ihrem Elternhaus und den Folgen des Missbrauchs frei machen. So sehr sie es teils wollen und versuchen. Ihre Gene und die Umwelt, in der sie aufgewachsen sind, haben sie zu denen gemacht, die sie sind. Kein freier Wille kann daran etwas ändern.

»Bergljots Familie« ist aber nicht nur aufgrund des Themas eine äußerst herausfordernde und bedrückende Lektüre, sondern auch, weil man Bergljots Ich-Perspektive auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Als Leserin erlebt man ihr Ringen um Worte und das ewige Kreisen um ihre psychischen Probleme hautnah mit. Man wird in einen Strudel an negativen und widersprüchlichen Gefühlen hineingerissen, spürt Bergljots Verzweiflung und Wut, leidet mit und an an der Erzählerin, die nicht unbedingt sympathisch ist. Gute Literatur muss manchmal weh tun und dieses Buch ist wirklich gut geschrieben, aber ich war froh nach 385 Seiten nicht mehr Teil dieser Familie sein zu müssen.

Vigdis Hjorth
Bergljots Familie
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
ISBN 978-3-95510-139-8
Osburg Verlag

Eine weitere Besprechung ist auf dem Blog LiteraturReich zu finden.


Cover Vigdis Hjorth, Bergljots Familie

Vigdis Hjorth
Bergljots Familie
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
ISBN 978-3-95510-139-8
Osburg Verlag