Minna Rytisalo – Lempi, das heisst Liebe
Lempi hat Dich verlassen. Lempi ist mit einem Deutschen in ein Auto gestiegen. Sie hat Deinen neugeborenen Sohn im Stich gelassen. Lempi ist tot, die Nachricht kam gestern. Vergiss Lempi, ich werde gut für Deine Kinder sorgen und den Hof hüten – bis du wieder da bist.
Viljami
Viljami kann kaum glauben, was da in den Briefen seiner Magd Elli steht, die ihn an der Front erreichen. Ein knappes Jahr hat er mit Lempi auf Pursuoja gelebt. Mit ihr gelacht, geliebt und immer wieder darüber gestaunt, dass die Abiturientin und Kaufmannstochter, ihn, den einfachen Bauern erwählt und geheiratet hat. Sie, die Spitzendeckchen, Truhen voller Kleider, gerahmte Bilder und eine Hutschachtel mit in die Ehe brachte, etwas, das Viljami noch nie zuvor gesehen hatte. Dass Lempi keine tatkräftige Bäuerin war, war offensichtlich – weshalb Viljami Elli auf den Hof holte – als Magd zur Unterstützung für Lempi.
Alles war doch gut gewesen, sie waren glücklich. Lempi wünschte sich Kinder, holte sogar den elternlosen Antero ins Haus und freute sich, dass dieser bald ein Geschwisterchen bekommen würde. Hatte er Lempi vielleicht doch falsch eingeschätzt? War ihr das Leben auf dem einsamen Hof in der Zwischenzeit zu schlicht, zu langweilig geworden? Wie oft hatte Viljami Lempi vor seinem inneren Auge in einem Café in der Großstadt gesehen, mit einer feinen Porzellantasse in der Hand und einem Buch. Hatte sie ein passenderes Leben gewählt?
An all dies erinnert sich Viljami als er aus dem Krieg zurückkehrt, zu Kindern, die er nicht kennt und denen er plötzlich ein Vater sein soll. Er hat Angst vor dieser freudlosen Zukunft ohne Lempi. Am liebsten würde er hier unter der Tanne auf seinem Bett aus Nadeln liegen bleiben und nie wieder aufstehen. Ein Leben ohne seine Lempi kann kein Leben sein.
Elli
Für die Magd Elli hingegen ist die Welt mehr als in Ordnung. Endlich ist sie weg, die verwöhnte Kuh, dieses verdammte Kuckuckskind, diese Brut eines Vielfraßes. Die faule Lempi war auf dem Hof doch zu nichts zu gebrauchen. Nicht einmal ordentliche Klöße hat sie zustande gebracht. Immer musste sie sich ausruhen. Ständig mussten die Laken gewaschen und das Bett neu bezogen werden. Aber sobald Viljami das Haus betrat, tat sie ach so geschäftig und wurde gelobt. Wo doch sie, Elli, die ganze Arbeit so gut wie alleine machte.
Und war nicht auch Lempi schuld daran, dass Viljami in den Krieg musste? Wäre er allein geblieben, hätten sie ihn nicht eingezogen. Ein Hof ging immer vor. Aber sobald Viljami zurück ist, wird sie ihm zeigen, welche Frau für ihn die richtige ist. Schon als sie das erste Mal den Hof sah wie er dort am See in der Sonne lag, wusste sie, dass dies ihr Hof war, ihr Zuhause, ihre Zukunft. Und Viljami stand in ihrer Schuld, hatte sie sich doch die ganze Zeit über hingebungsvoll um die Kinder gekümmert.
Sisko
Ellis Rechnung hätte aufgehen können. Tatsächlich standen ihre Chancen gar nicht so schlecht, wenn nur nicht Lempis Zwilling Sisko so hartnäckig nach ihrer verschwundenen Schwester geforscht hätte und nach Finnland zurückgekehrt wäre.
Sisko ist die verständigere der beiden Schwestern. Während Lempi nach dem Abitur weiter im Laden ihres Vaters aushilft wo man die lebenslustige und sprunghafte junge Frau besser im Augen behalten kann, absolviert Sisko einen Schreibmaschinenkurs und wird Stenotypistin im Stab der Deutschen. Hier lernt sie Max kennen, der bald als ihr Verlobter gilt. Was die eine Schwester hat, muss die andere aber auch haben. Und so schließen Sisko und Lempi eine Wette mit ungeahnten Konsequenzen.
Max und Sisko sind bei weitem nicht das einzige deutsch-finnische Paar, denn die Finnen betrachten die Deutschen zu diesem Zeitpunkt als Waffenbrüder im Kampf gegen Russland. Doch dann muss Max zurück nach Deutschland und Sisko geht mit – obwohl Max sie schlägt und missbraucht. In Hamburg angekommen, verlässt Max Sisko und verlobt sich standesgemäß mit einer Deutschen. Bei der ersten Gelegenheit, die sich ihr bietet, kehrt Sisko zurück zu dem, was ihr an Familie geblieben ist, zu Viljami und den Kindern.
„Lempi, das heisst Liebe“ ist ein wirklich erstaunlicher und außergewöhnlicher Roman. Minna Rytisalo ist eine überaus geschickte und raffinierte Erzählerin. Vieles, das ganz beiläufig mit einem Wort erwähnt wird, bekommt an späterer Stelle große Bedeutung. Man sollte sehr genau lesen, damit einem nichts entgeht, sprich dies ist kein Buch für den Nachttisch.
Indem Minna Rytisalo Viljami, Elli und Sisko ihre jeweils eigene Lempi-Geschichte erzählen lässt, entstehen drei vollkommen unterschiedliche Bilder der Abwesenden, die sich im Kopf der Leserin übereinanderlegen und zu einem Ganzen werden. Wie bei einem Kaleidoskop ändern sich die Facetten der Lempi mit jeder Drehung und mit jeder Perspektive. Viele Seiten braucht Minna Rytisalo dafür nicht, denn sie beherrscht die Kunst, mit einem wohlgesetzten Wort ganze Geschichten zu erzählen. Auch dadurch entsteht eine ungeheuer Spannung und Neugier auf Lempis Schicksal und die Lösung des Rätsels, was mit ihr tatsächlich geschah.
Eine große Bereicherung ist das Nachwort der Übersetzerin Elina Kritzokat, die hier die geschichtlichen Hintergründe wunderbar zusammenfasst und erklärt. Mir hat dies sehr geholfen, denn mein Wissen über den Winterkrieg und den Fortsetzungskrieg ist zu dürftig, um jede Anspielung in dem Roman zu verstehen.
Ich hoffe jedenfalls sehr, dass Minna Rytisalos Debütroman »Lempi, das heißt Liebe« hier genauso viele begeisterte Leserinnen und Leser findet, wie in Finnland, wo das Buch bereits diverse Preise eingeheimst hat.
Minna Rytisalo
Lempi, das heißt Liebe
Aus dem Finnischen und mit einem Nachwort
von Elina Kritzokat
ISBN 978-3-446-26004-7
Carl Hanser Verlag