Arne Dahl – Der elfte Gast

Ausgerechnet Totensonntag, den letzten Sonntag im November, hat der geheimnisvolle Briefschreiber ausgewählt, um die ehemaligen Ermittler der A-Gruppe in einem entlegenen Herrenhaus irgendwo in den schwedischen Wäldern zu versammeln. Früher wurde an diesem Datum gerne der Weltuntergang beschworen und vom Teufel und der Pest gepredigt. Jener Seuche, vor der zehn jungen Leute in Boccaccios Dekameron aufs Land fliehen und sich die Zeit mit Geschichtenerzählen vertreiben. Auch die zehn Ermittlerinnen und Ermittler der A-Gruppe sollen jeder eine Geschichte mitbringen. Und während sie sich über ihr Wiedersehen freuen und alles als einen großen Spaß betrachten, fragt sich die Leserin allmählich, wo der Krimi eigentlich hinführen soll. Auch aus Mangel an Morden.

Schon der Beginn des Romans, der eine spektakuläre Flucht Mitte des 18. Jahrhundert beschreibt, irritiert. Seit wann beschäftigt sich die A-Gruppe mit cold cases? Und dann diese schaurige Atmosphäre in dem alten Herrenhaus, die flackernden Kerzen, die Schatten, die über die Wände kriechen und das rätselhafte Gedicht in jedem Schlafzimmer. Das hätte ich in einem Kriminalroman von Arne Dahl nicht erwartet, eher schon bei Edgar Allan Poe.

Nach dem alle ihr Quartier bezogen haben, setzen sich Arto Söderstedt, Kerstin Holm und die anderen an den großen Tisch im Saal, verspeisen ein originalgetreues Mahl aus dem 18. Jahrhundert und beginnen der Reihe nach ihre ausgedachten Gedichten zu erzählen. Eine nach der anderen und Seite um Seite wartet die Leserin auf den Mord und spekuliert mit der A-Gruppe, wer wohl der Mastermind hinter dieser Veranstaltung ist. Theorien und Vermutungen gibt es viele.

Aber als die zehnte und vermeintlich letzte Geschichte erzählt ist, wird klar, dass sich alle gründlich getäuscht haben. Keiner der Anwesenden hat das Wiedersehen arrangiert, nicht der Meisterspion Paul Hjelm und auch nicht der Gründer, der A-Gruppe, Jan -Olov Hultin oder der Jungschriftsteller Gunnar Nyberg, sondern der elfte Gast, der nun aus dem Schatten tritt und sich zu ihnen an den Tisch gesellt.

Seine Geschichte handelt von Jakob Andreas Dahl, seinem Vorfahr und Erbauer des Herrenhauses, in dem sie jetzt beisammen sitzen. Vor genau 270 Jahren verschwandt Jakob Andreas von hier spurlos, nachdem er in letzter Minute vor den Soldaten des Königs fliehen konnte. Da er seine Bücher und sein Wissen mit allen teilen wollte, war er den Mächtigen des Landes ein Dorn im Augen, den es zu entfernen galt.  Und nun soll A-Gruppe das Rätsel um Jakob Andreas‘ weiteres Schicksal lösen. Was ihnen gelingt, bevor alles erdbebenartig in sich zusammen stürzt und der Autor buchstäblich seine Lieblinge killt.

»Der elfte Gast« ist der elfte Roman in der Serie um die A-Gruppe und gleichzeitig der letzte. Fünf der zehn Ermittler überleben den Angriff ihres Autoren, und werden Teil der Opcop-Gruppe und damit der nächsten Serie. Arne Dahl treibt zum Abschluss der ersten Serie ein perfides Spiel mit den Erwartungen der Leserinnen und Leser. Er verwendet Elemente des Schauerromans, des historischen Romans, der Detektivgeschichte und der Erzählung, anstatt einen reinen Kriminalroman zu schreiben. Das ist gewagt, gerade bei Leserinnen und Leser von Genreliteratur. Aber wo bliebe die Freiheit des Autors, wenn er sich immer und ewig in dieses Konventionskorsett zwängen und sich den Erwartungen seiner Leserschaft unterwerfen müsste. Sich diese Freiheit zu nehmen, finde ich mutig und ziehe deshalb meinen imaginierten Hut vor Arne Dahl. Abgesehen davon ist die Lektüre dieses Romans extrem unterhaltsam.


Cover Arne Dahl, Der elfte Gast

Arne Dahl
Der elfte Gast
Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt
ISBN 978-3-492-05304-4
Piper