Christian Jungersen – Du verschwindest

Cover Christian Jungersen - Du verschwindestHamsterkäufe

In der Regel kaufe ich Bücher schneller, als ich sie lese. Schon allein, um immer eine Wahl zu haben. Vielleicht möchte ich ja morgen einen Krimi lesen, oder eine Familiengeschichte, oder eine Biografie, auf Deutsch, oder Dänisch oder Norwegisch? Leider neige ich auch dazu, die neuen Bücher vorne ins Regal zu stellen, so dass andere in die zweite und dritte Reihe rutschen, wo sie mit der Zeit in Vergessenheit geraten. Bis mich irgendetwas zufällig an ihre Existenz erinnert.

So ist es mir auch mit »Du verschwindest« von Christian Jungersen gegangen. Vermutlich habe ich die dänische Originalausgabe 2012 bei Erscheinen gekauft. Gelesen habe ich das Buch erst vorletzte Woche, als ich über die sozialen Medien von der Verfilmung mit Trine Dyrholm erfahren habe. Der Filmtrailer war jedenfalls Anstupser genug, um den Band aus den Tiefen des Regals hervorzuholen und von einer dicken Staubschicht zu befreien. Glücklicherweise haben Bücher kein Verfallsdatum. Das Ausgraben hat sich jedenfalls mehr als gelohnt.

Am Anfang ist alles eitel Sonnenschein

Mia lebt mir ihrem Mann Frederik und ihrem gemeinsamen Sohn Niklas im Villenviertel von Farum, einer Kleinstadt in der Nähe von Kopenhagen. Frederik hat als Schulleiter einer renommierten Privatschule Karriere gemacht und Mia das Haus mit restaurierten Designermöbeln geschmackvoll eingerichtet. Niklas ist ein ganz normaler Teenager und seit Frederik sich vor drei Jahren auf wundersame Weise vom Schürzenjäger zum liebevollen Ehemann gewandelt hat, ist Mias Leben rundherum perfekt.

Im Urlaub auf Mallorca endet die Familienidylle jedoch abrupt. Nach einem Unfall wird bei Frederik ein Hirntumor diagnostiziert, der zwar kein Krebs ist, aber einen Hirnschaden verursacht hat. Frederiks Persönlichkeit ändert sich daher nach der Operation erneut komplett. Von einem Tag auf den anderen ist Mia mit einem egoistischen und manipulativen Mann verheiratet, der seine Gefühle und sich selber nicht mehr im Griff hat. Und dann wird Frederik auch noch angeklagt, weil er Gelder seiner Schule veruntreut hat und diese vor dem Konkurs steht.

Schuldig im Sinne der Anklage?

Aber ist Frederik daran tatsächlich schuld oder die Krankheit? Kann Frederik vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden, oder verlieren sie nur ihr Haus und Privatvermögen? Ein Tumor wächst schließlich nicht über Nacht.
Abend für Abend gräbt Mia sich durch die einschlägige Fachliteratur, trifft sich mit anderen Betroffenen und findet schließlich heraus, dass der Tumor vor drei Jahren zu wachsen begonnen haben muss. Die schönste Zeit ihrer Ehe war also ebenfalls der Krankheit geschuldet.
Aber auch Mias Persönlichkeit verändert sich aufgrund der neuen Situation und ganz ohne Hirnschaden. Auch sie verhält sich anders als zuvor, verliebt sich in einen anderen Mann und entwickelt eine neue Persönlichkeit. Die Frage, welcher Charakterzug krankheitsbedingt ist und welcher nicht, wird immer schwieriger zu beantworten.

Das wahre Ich

Mit diesem raffinierten Twist stellt Christian Jungersen den freien Willen des Menschen in Frage. Gibt es das wahre Ich, hat der Mensch einen eigenen, unveränderlichen Charakter oder ist doch alles Chemie und eine Laune der Natur? Diese Fragen werden im Verlauf der Handlung in unterschiedlichen Situationen immer wieder neu aufgeworfen, was den Roman ungeheuer komplex und herausfordernd macht, ohne jemals an Spannung zu verlieren. Eine Antwort gibt der Autor nicht, aber den Hinweis, dass man manches vielleicht gar nicht so genau wissen muss.

»Du verschwindest« ist auch auf deutsch noch immer lieferbar. Wer also Lust auf einen tiefgründigen, philosophischen und gekonnt erzählten Roman hat, der sollte zu diesem Buch greifen bevor der Film hoffentlich auch bei uns in die Kinos kommt.

Christian Jungersen
Du verschwindest
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
ISBN 978-3-442-75396-3
btb Verlag

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