Anne Cathrine Bomann – Agathe
Die Dänin Anne Cathrine Bomann erzählt in ihrem Roman »Agathe« die Geschichte eines verknöcherten Psychiaters, der am Ende seines Berufslebens von zwei Frauen aus der Reserve gelockt wird.
Kurz vor Schluss
Er zählt – die Wochen, Monate, Sitzungen und Patienten, die er noch überstehen muss, bis er mit 72 endlich in den Ruhestand geht. Noch liegen achthundert Gespräche vor ihm, maximal, denn die eine oder andere Patientin sagt vielleicht noch einen Termin ab. Allein dieser Gedanke hält ihn aufrecht.
Zu seinen Patienten hat er schon lange eine mehr als professionelle Distanz entwickelt. Sie liegen auf der Couch und reden. Er sitzt hinter ihnen, hört zu und brummelt ab und an etwas Unverständliches, um zu signalisieren, dass er noch da ist. Sein früherer Wunsch, den Menschen helfen zu können, ist schon längst einer traurigen Ernüchterung gewichen. Die meisten seiner Patienten scheinen sich nicht helfen lassen zu wollen, sondern gerne zu leiden. Und so sitzt er die vereinbarte Zeit ab und zeichnet Vögel, die eine gewisse Ähnlichkeit mit seinen Patienten aufweisen.
Agathe
Dann tritt Agathe in sein Leben. Forsch und selbstbewusst fordert sie einen Termin. Ja, sie weiß, dass er bald in Rente geht und nein, sie will zu keinem anderen Arzt. Sie hat sich nunmal in den Kopf gesetzt, dass nur er ihr helfen kann. Und nein, sie will keine Therapie und schon gar nicht wieder zurück in die geschlossene Anstalt. Was sie braucht, ist jemanden mit dem sie reden kann, ihn. Notgedrungen willigt er ein, zumal seine Sekretärin schon längst einen Termin mit Agathe vereinbart hat. Die beiden Frauen lassen ihm schlicht keine Wahl.
Was nun passiert, grenzt an ein kleines Wunder. Er, der bislang in sich gekehrt und verschlossen war, allem und jedem möglichst aus dem Weg ging, beginnt sich zaghaft auf einen Menschen einzulassen. Denn Agathe stellt ihm Fragen, fordert Antworten und Erklärungen und zwingt ihn so ihn ein Gespräch. Sie will verstehen, warum es ihr so schlecht geht, warum sie sich so leer und nutzlos fühlt. Warum sie am liebsten ihr Gesicht auslöschen würde. Wieso hat sie ständig das Gefühl allen beim Leben zuzuschauen, ohne selbst daran teilzuhaben?
Vorsichtige Freude
Mit der Zeit beginnt er sich auf die Termine zu freuen. Wenn sie den Raum verlassen hat, wartet er ein paar Minuten mit dem Lüften, damit er ihren Geruch nach gebratenen Äpfeln und Zimt noch einen Moment länger genießen kann. Er erinnert ihn an gute Zeiten.
Aber Agathe weckt nicht nur Erinnerungen, sie hält ihm auch den Spiegel vor. Denn ihr Leiden ist auch sein Leiden. Auch ihn überfällt immer wieder dieses Gefühl der Leere. Was wird er tun, wenn er im Ruhestand ist – essen, trinken und dem Körper beim Verfall zusehen? Eine grauenhafte und deprimierende Vorstellung.
Agathe ist allerdings nicht die einzige, die ihn auf seinen letzten Metern bis zur Rente fordert. Madame Surrugue, die seit über dreissig Jahren wortlos jeden Morgen seinen Mantel aufhängt und die Patientenakten bereithält, braucht ebenfalls seinen Rat, dringend. Und auch wenn ihm das höchst unangenehm und unwillkommen ist, er muss zumindest versuchen zu helfen, denn was wäre er sonst als Mensch noch wert?
Am Ende ein Anfang
Er wird Erfolg haben, er wird wieder Nähe zulassen und auf Menschen zugehen, er wird sich überwinden und er wird seine Pläne ändern, soviel sei an dieser Stelle verraten. Eine romantische Liebesgeschichte ist dieser Roman jedoch nicht. Aber er ist herzerwärmend, philosophisch, voller Hoffnung und sehr klug. Besonders aber bewundere ich Anne Catherine Bomann für ihre Fähigkeit kleine metaphorische Szenen einzustreuen, die berühren, aber nicht dick auftragen. Da wäre zum Beispiel das zerknüllte Taschentuch eines Patienten, das sich auf der blanken Oberfläche eines Mahaghonitisches langsam wie eine Seerose entfaltet.
»Agathe« von Anne Catherine Bomann ist Literatur wie sie meiner Meinung nach sein sollte – einfach wunderbar.
Anne Cathrine Bomann
Agathe
Aus dem Dänischen von Franziska Hüther
ISBN 978-3-446-26191-4
hanserblau