fliegende Möwen auf den Färöern

Anders Johansen – Das schwarze Loch in mir

Über ein Dorf fernab der Zivilisation, einen Tunnel, Seevögel und einen sehr besonderen Jungen.

Basstölpel, Raubmöwe, Seeschwalbe, Alk, Papageientaucher, Eissturmvogel, Trottellumme, Teiste. Wörter, besonders Vogelnamen, sind Davids Rettungsring. Immer, wenn das schwarze Loch ihn zu verschlingen droht, wenn ihm alles zuviel wird, murmelt er sie vor sich hin. Sie beruhigen ihn, geben ihm Sicherheit in dieser Welt, die er manchmal einfach nicht versteht. Genauso wie sein großer Bruder Peter, sein Fels, sein Hüter, der ihn verteidigt und beschützt, der nicht zulässt, dass Reidar ihn verspottet oder als dumm bezeichnet.

Gesichtsausdrücke zu entschlüsseln, hat David anhand von Smileys gelernt. Nur so weiß er, was andere fühlen, nachempfinden kann er es nicht. Dafür hat er ein phänomenales Gedächtnis. Er ist das Lexikon der Klasse, wie Lehrer Joensen gerne sagt, der überhaupt sehr viel Verständnis für David hat und ihm hilft, wo er nur kann. Im Klassenzimmer hat Joensen nur für David eine Computerecke eingerichtet, in die David sich jederzeit zurückziehen darf, wenn sein Kopf dröhnt. Und wenn David mal wieder kein Ende beim Aufzählen von Daten und Fakten findet, gibt Lehrer Joensen ihm einfach das vereinbarte Zeichen und David weiß, dass es jetzt genug ist.

Mit dieser Unterstützung lässt es sich für David gut leben in Fjeldvig, das durch das Storfjell vom Rest der Welt abgeschnitten ist. Veränderungen, die David so hasst, gibt es hier kaum. Alles geht seinen geregelten Gang. Dreimal in der Woche wandert sein Vater über den Berg, um die Post zu holen. Lebensmittel, die Davids Eltern in ihrem Laden verkaufen, werden alle zwei Wochen von einem Kutter geliefert. Und abends um 22 Uhr gehen im Dorf die Lichter aus, weil der Generator abgeschaltet wird.
Bis die Landesregierung eines Tages beschließt, einen Tunnel durchs das Storfjell zu sprengen und Fjeldvig an die Zivilisation anzubinden.

Innerhalb kürzester Zeit ändert sich das Leben in dem Dorf fast vollständig und bringt die kleine Gemeinschaft ins Wanken. Davids Vater verliert seinen Job als Postbote. Ein Café mit Aussicht und ein Supermarkt werden gebaut. Busse karren Touristen nach Fjeldvig, die sich in einem Museumsdorf wähnen und die Einwohner begaffen, als stammten sie aus dem vorigen Jahrhundert. 
Die jungen Leute begrüßen den Fortschritt, der ihnen mehr Freiheit verspricht. Andere, wie Davids Vater verzweifeln an der neuen Welt, in der sie sich nicht mehr zurechtfinden.

David beobachtet und registriert alles. Er folgt seinem Bruder auf Schritt und Tritt. Solange Peter bei ihm ist, können ihm die Veränderungen nichts anhaben. Aber Peter verliebt sich in Ragna, das Mädchen, das immer lächelt und in dem neuen Café arbeitet. Was Liebe ist, versteht David nicht, sehr wohl aber, dass Ragna ihm Peter wegnehmen könnte. Und dass es nicht in Ordnung ist, wenn Ragna mit Reidar, Peters bestem Freund nackt im Bett liegt und ihn küsst. Als die vier eines Tages an den Vogelfelsen Trottellummeneier sammeln, kommt es infolgedessen zu einem Zwischenfall, der für David und Peter endgültig alles verändert.

Aus der Perspektive des autistischen David beschreibt Anders Johansen sehr eindrücklich, was passiert, wenn Fortschritt im Schnelltempo angeordnet wird. Einige gewinnen, viele verlieren. Aber alle müssen mit den Veränderungen leben. Und wer wie David schließlich lernt, sich mit dem abzufinden, was er nicht ändern kann, startet gefestigter in die neue Zukunft.
Trotzdem möchte man David manchmal einfach in die Arme nehmen und drücken, wohlwissend, dass ihm das weder helfen, noch gefallen würde. »Das schwarze Loch in mir« ist ein äußerst berührendes Buch.


Cover Andres Johansen, Das schwarze Loch in mir

Anders Johansen
Das schwarze Loch in mir
Aus dem Dänischen von Gabriele Haefs
ISBN 978-3-407-82172-0
Beltz & Gelberg


Foto von Jessica Pamp auf Unsplash