
Sigrid Boo – Dienstmädchen für ein Jahr
Die Wette
So hat sich Helga das Ende ihrer Schulzeit nicht vorgestellt. Statt ihren Koffer für Paris zu packen, sitzt sie im Zug nach Oslo. Sie, die Tochter aus gutem Hause, wird dort ein Jahr lang als Dienstmädchen den Staubwedel schwingen, Teller waschen, Kinder hüten, Essen servieren und Hühnchen rupfen. Weil sie mal wieder das letzte Wort haben musste.
Eigentlich wollte Helga sich nur in geselliger Runde amüsieren und über die verschobene Parisreise hinwegtrösten. Aber dann behauptet dieser junge Schnösel doch glatt, die moderne junge Frau tauge nur zum Flirten und Tanzen. Mehr als den lieben langen Tag mit Zigaretten und Romanen auf der Couch zu liegen, brächte sie nicht zustande.
So eine infame Unterstellung kann Helga nicht auf sich sitzen lassen. Kochen, backen, putzen könne ja wohl nicht so schwer sein, ihre eigenen Hausangestellten erledigten das ja schließlich mit links. Und so schlägt Helga folgende Wette vor: sie wird inkognito ein Jahr lang als Dienstmädchen arbeiten und ausschließlich von ihrem Lohn leben. Die jungen Herren, allen voran ihr Zukünftiger in spe, nehmen die Wette begeistert an. Gewinnt Helga, soll ein Diamantring die Belohnung sein.
Enttäuschung
Mit Feuereifer stürzt Helga sich in die Vorbereitungen, liest Kochbücher, befragt die Hausangestellten und schreibt Bewerbungen. Schließlich ergattert sie eine Stelle bei einer siebenköpfigen Familie in Oslo. Während sie im Zug noch von einer adretten Backsteinvilla träumt, folgt die Ernüchterung bereits bei ihrer Ankunft. Niemand steht auf dem Bahnsteig, um sie abzuholen.
Als sie später bei der avisierten Adresse eintrifft, blickt sie auf eine Mietskaserne aus dem letzten Jahrhundert. Ihre Arbeitgeberin Frau Lisby allerdings schwärmt den lieben langen Tag von edlen Mahagoni-Möbeln, die noch eintreffen werden. Sie schwadroniert von goldenen Kandelabern und herrlichen Teppichen, um im gleichen Atemzug Helga um Geld für die Einkäufe zu bitten. Ganz sechs Wochen bleibt Helga dort, bevor sie kündigt.
Geheimnisse
Gut Vinger, ihre nächste Station, entspricht schon eher Helgas Vorstellungen. Das Herrenhaus der Familie Bech liegt vierzig Kilometer von Oslo entfernt, umgeben von Fjord, Forst und blauen Gipfeln, wie sie ihrer Freundin Grete schreibt. Diesmal wird sie auch abgeholt und zwar von einem sehr schmucken, aber leider äußerst maulfaulen Chauffeur.
Rasch lebt Helga sich ein. Ihre Kolleginnen, die Köchin Laurense und das Kindermädchen Olga, sind überaus nett und sehen ihr, wenn auch mit Stirnrunzeln, ihre Missgeschicke beim Kochen und im Haushalt nach.
Doch nicht nur die Angestellten, auch die Familie Bech wird nicht recht schlau aus dem neuen Dienstmädchen. Zu ungeschickt ist Helga beim Servieren, ihre Kleider sind aus zu gutem Stoff und französisch scheint sie auch noch zu sprechen. Wo sie das wohl gelernt haben mag?
Über ihre Herkunft und ihre Vergangenheit schweigt Helga genauso beharrlich, wie Chauffeur Frigård. Womöglich war sie beim Zirkus? Dass Helga auf den Händen laufen kann und dies zum Vergnügen der Kinder auch tut, legt den Verdacht jedenfalls nahe.
Das vermeintliche Zirkuskind jedenfalls genießt es, die Geheimnisvolle zu geben und allen voran Frigård zu verwirren. Zu diesem schweig- und strebsamen jungen Mann fühlt sie sich mehr als hingezogen. Der ernsthafte Frigård, der sich sein Ingenieursstudium auf Gut Vinger verdient, ist das genaue Gegenteil von Luftikus Jørgen, der in Helgas Freundeskreis als ihr Zukünftiger gehandelt wird. Wer hier als Leserin auf eine Liebesgeschichte mit allerlei Irrungen und Wirrungen hofft, der wird nicht enttäuscht.
Ebenfalls sehr vergnüglich sind die Anstrengungen, die Helga zur Wahrung ihrer Identität unternimmt. Da die Familie Bech in den gleichen Kreisen verkehrt, wie ihr Vater, kann es durchaus passieren, dass ein entfernter Verwandter zu den geladenen Gästen gehört und von ihr bedient werden soll. Eine vorgetäuschte Ohnmacht zur rechten Zeit kann da durchaus von Nöten sein.
Auch die vielen lustigen Begebenheiten mit ihren Kolleginnen machen das Buch zu einer äußerst unterhaltsamen Lektüre. Ein Kinderwagen und ein Stapel leerer Benzinkanister spielen eine nicht unerhebliche Rolle, wie auch eine verschwundene Brosche und ein gefälschter Strafzettel. Ob Helga die Wette am Ende gewinnt, wird an dieser Stelle nicht verraten.
Empfehlung
Sigrid Boos Roman »Dienstmädchen für ein Jahr« spielt zwar in den Dreissigerjahren, ist aber in mehrfacher Hinsicht mit den wunderbaren Romanen von Jane Austen verwandt. Besonders die Geheimnisse und Missverständnisse zwischen den Liebenden und Frigårds schroffe Art, haben mich zum Beispiel an »Stolz und Vorurteil« erinnert.
Aber auch Verbindungen zu unserer heutigen Zeit lassen sich ziehen. Die große Frage, welche berufliche Richtung nach dem Abitur einschlagen werden soll, ist zeitlos. Und auch die derzeitige Wirtschaftskrise macht die Umsetzung mancher Träume und Pläne sicherlich oftmals schwierig bis unmöglich, so wie Helgas Reise nach Paris der damaligen Krise zum Opfer fällt.
Das Buch ist eine Wiederentdeckung der Übersetzerin Gabriele Haefs und als solches in der Reihe rororo Entdeckungen erschienen, herausgegeben von Magda Birkmann und Nicole Seifert. Wer mehr über die Autorin Sigrid Boo erfahren will, findet wenig. Obwohl ihr Roman »Dienstmädchen für ein Jahr« nach seinem Erscheinen 1930 sechzigtausend mal verkauft und mehrfach verfilmt wurde, ist sie aus der Literaturgeschichte fast gänzlich verschwunden. Mehr über die Wiederentdeckung ihres Buches ist im Nachwort zu erfahren und in diesem Blogbeitrag von Gabriele Haefs.

Sigrid Boo
Dienstmädchen für ein Jahr
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Herausgegeben von Magda Birkmann
und Nicole Seifert
ISBN 978-3-463-00073-2
Rowohlt Kindler
Foto: Kristina Fatina auf Unsplash