Steinunn Sigurdardóttir – Jojo

Jeder dritte Mensch erkrankt im Laufe seines Lebens an Krebs und Martin Montag kämpft dafür, dass seine Patienten ihn überleben. Siegfried, den Tumortöter, nennt ihn sein Freund Martin Martinetti.
Auch an diesem Tag starrt Martin auf Röntgenbilder, entwickelt individuelle Bestrahlungstherapien und freut sich auf den Abend mit seiner Frau Petra. Noch zwei Patienten, dann wird er Schluss machen für heute und einen kühlen Weißwein unter blühenden Kastanienbäumen genießen.

Die Heilungschancen des nächsten sind gut. Ein Speiseröhrenkarzinom, das Martin merkwürdigerweise an ein rotes Jojo erinnert. Wie passt das zu seiner Theorie, jeder Tumor habe den selben Charakter wie sein Mensch? Was hat ein rotes Jojo mit diesem jammernden Mann zu tun, der sich bitterlich über die Ungerechtigkeit seines Schicksals beklagt?

Endlich, als alles besprochen ist, verlässt der Patient das Behandlungszimmer und Martin überwältigt die Erkenntnis, wen er da vor sich hatte. Sein über lange Jahre hinweg mühsam aufgebauter Selbstschutz bricht in sich zusammen. Plötzlich ist er wieder der Junge, der eines Tages von der Schule nach Hause ging und einen Umweg über den Park machte. Gedanken und Bilder wirbeln durch Martins Kopf und treiben ihn durch die Straßen von Berlin.

Ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, sich das Leben zu nehmen? Und wenn ja, wann und wo? Vielleicht in der Garage seines Elternhauses, wo bereits ein Haken in die Decke geschraubt ist und eine Hobelbank zum Hochsteigen steht? Einen Abschiedsbrief muss er noch schreiben für den Fall der Fälle und immer bei sich tragen, so wie sein Freund Martin, der in seiner Vergangenheit als Clochard und Alkoholiker mehr als einmal bewusst am Abgrund stand.

All die Jahre hat der danach gestrebt, Tumore zu töten und Menschen zu heilen, jetzt will er seinen Patienten umbringen, oder doch lieber sich selbst?
Bei seinen ganzen Überlegungen hat er allerdings die Rechnung ohne seinen Freund gemacht. „Was hat dir dieser Mann als Kind angetan?“ fragt Martin Martin eines abends direkt? „Dich mit der Aussicht auf ein Jojo gelockt und vergewaltigt? Sei froh, dass du das nur einmal erleben musstest. Andere sind schlechter dran“, wirft er ihm an den Kopf und nimmt ihn in den Arm.
Knoten platzen und zwei Männer mit ähnlichen Schicksalen entscheiden sich erneut für das Leben.

Steinunn Sigurdardóttir ist eine Meisterin der Erzählkunst. Sie schreibt über menschliche Schicksale ohne Gefühlsduselei und mit einer guten Portion trockenem Humor. Mit wenigen Worten erzeugt sie ein Feuerwerk an Bildern und Emotionen, die nach der letzten Seite noch länger über die innere Netzhaut flimmern und das Herz erwärmen.
Große Literatur auf kleinem Raum.


Cover Steinunn Sigurdardottir, Jojo

Steinunn Sigurdardóttir
Jojo
Aus dem Isländischen von Coletta Bürling
ISBN 978-3-498-06427-3
Rowohlt Verlag