Es war einmal vor langer Zeit, oder vielleicht doch erst gestern, ein Mann, dessen kleine Welt aus Aktenordnern bestand. Als Papierbeauftragter bekleidete J. den wichtigsten Posten in der Verwaltungsbehörde. Denn, wie sein Vorgesetzter S. zu sagen pflegte: »Ohne Aufkleber kein Ordner, ohne Ordner kein Beamter, ohne Beamten keine Rangleiter, ohne Rangleiter keine Abteilung, ohne Abteilung kein Amt, ohne Amt kein Öffentlicher Dienst, ohne Öffentlichen Dienst kein Staatssekretär, ohne Staatssekretär keine Minister, ohne Minister keine Regierung, ohne Regierung kein Staat.«
Nun geschah es, dass der Oberste Papierbeauftragte seinen wohlverdienten Urlaub antrat und J. versehentlich oder mit Absicht, in seinem Büro einschloss. Was tun? In den Akten fand sich für diese Situation keine Handlungsanweisung. Aus dem Fenster klettern konnte J. nicht, es gab keins. Das Telefon zu benutzen war ihm strengstens untersagt und seine Kollegen längst zuhause, Schreien und Rufen also zwecklos.
Aber am nächsten Morgen würde die Putzfrau kommen. Er musste also nur abwarten.
Wie es der Zufall, bzw. das Amt aber nun wollte, hatte die Putzfrau keinen Schlüssel zu J.s Büro. Und so eilte sie von dannen, um Hilfe zu holen. In der Zwischenzeit war J.s Ehefrau ebenfalls vorstellig geworden und hatte ihren Gatten als vermisst gemeldet. Infolgedessen waren gleich mehrere Instanzen mit der Causa J. beschäftigt und die Verwirrung groß.
Gerade in einer Behörde muss nämlich alles seinen geregelten Gang gehen, weshalb erst einmal die Verantwortlichkeiten geklärt, Befehle erteilt und Beamten mit Schlüsselfunktion gesucht wurden, um J. aus seinem Büro zu befreien.
Bekanntermaßen mahlen die Mühlen der Bürokratie jedoch äußerst langsam und so wurde die Situation für J. immer prekärer. Hunger und Durst halten sich nicht an Verordnungen oder können mit Papier gestillt werden, ebenso wenig wie gewisse anderen menschliche Bedürfnisse. Am Ende wird nichts gut.
Der irische Satiriker Máirtín Ó Cadhain treibt in seiner Novelle »Der Schlüssel« den Regelwahn der Bürokratie gekonnt auf die Spitze und beschreibt mit einer guten Portion schwarzen Humors, was passiert, wenn Paragrafenreiterei über den gesunden Menschenverstand obsiegt. Kommen dann noch Selbstsucht und Geltungsbedürfnis hinzu, ist das Chaos nahezu komplett.
Dieses kleine, sehr schön ausgestattete Buch ist die ideale Lektüre, wenn es mal wieder etwas länger dauert: bei der Bahn, im Kundencenter oder beim Warten auf den Schlüsseldienst. Es tröstet ungemein und rückt die Dinge wieder ins rechte Licht.
Máirtín Ó Cadhain
Der Schlüssel
Aus dem Irischen übersetzt von Gabriele Haefs
ISBN 978-3-520-60001-1
Alfred Kröner Verlag