Sara Lövestam – Die Wahrheit hinter der Lüge

Über ein verschwundenes Mädchen, einen Detektiv mit heller Stimme, modifizierte Wahrheiten und die Zerbrechlichkeit der Psyche.

Der Tag, an dem Julia verschwand, war kalt und regnerisch. Gerade eben hatte Pernilla noch ihre kleine, feuchte Hand in der eigenen gespürt, dann war ihre Tochter plötzlich weg. Stundenlang suchte Pernilla das ganze Globen Centrum ab, ohne Erfolg. Was tun? Zur Polizei kann sie nicht gehen. Das Sozialamt darf auf keinen Fall von Julia erfahren. Sonst nehmen sie sie ihr weg. Da stösst Pernilla im Internet auf die Anzeige eines Privatdetektivs: »Kontaktieren sie mich, wenn Ihnen die Polizei nicht helfen kann.« Endlich ein Lichtblick. Das ist genau, was sie braucht.

Als Pernillas Mail in seinem Postfach aufploppt, ist Kouplan hin- und hergerissen zwischen Furcht und Freude. Mitten in Stockholm nach einem Kind zu suchen, ist riskant für jemanden, dessen Asylantrag abgelehnt wurde und der deshalb untergetaucht ist. Er könnte auffallen oder schlimmer noch, der Polizei direkt in die Arme laufen. Andererseits braucht Kouplan dringend Geld, um seine Schulden und sein Zimmer zu bezahlen. Also bleibt ihm keine andere Wahl und er vereinbart ein Treffen.

Pernilla hat sich Kouplan nicht unbedingt mit Trenchcoat und Pfeife vorgestellt, dennoch ist sie überrascht, als ein junger Iraner mit zerschlissener Jacke und dem Aussehen eines Vierzehnjährigen vor ihr steht. Aber Kouplan kann ihre Bedenken schnell zerstreuen. Sein Jugendlichkeit sei genetisch bedingt und er habe früher als Journalist gearbeitet. Und auch sie hat keine Wahl. Sie muss Julia wiederfinden, sonst wird sie vor Verzweiflung noch verrückt.

Wer, wie Kouplan, schon einmal verschwinden musste, weiß, an wen er sich zu wenden hat, wenn er selber eine Verschwundene sucht. Hinter einem Döner Imbiss verrät ihm Rashid, dass ein stadtbekannter Menschenhändler seit kurzem ein siebenjähriges Mädchen im Angebot hat. Kouplan heftet sich an die Fersen zwielichter Gestalten und verbringt Stunden und Tage in dunklen Hauseingängen bis er zu einer Wohnung geführt wird, hinter deren Fenster er das Gesicht eines kleinen Mädchens zu sehen glaubt.

Um sicher zu gehen, versucht er gleichzeitig mehr über Pernilla und Julia herauszufinden. Dabei stolpert er immer wieder über merkwürdige Ungereimtheiten, die Pernilla nicht schlüssig erklären kann. Warum kann sie sich nicht an Julias Geburtsdatum erinnern? Warum ist die Kinderzahnbürste im Badezimmer unbenutzt? Warum sind die Gummistiefel im Flur für eine Siebenjährige viel zu klein? Weshalb gibt es keine Fotos? Was von Pernillas Erzählungen ist Wahrheit, was Lüge?

Je länger sich Kouplan mit dem Fall beschäftigt, desto mehr wird ihm klar, dass es in Schweden Menschen gibt, die durch das Raster des Wohlfahrtsstaates fallen, deren Leben sich nicht in Schubladen oder Excel-Tabellen pressen lässt. Diesen Menschen sind Dinge widerfahren, die vom System schlicht nicht vorgesehen sind. Die Psyche des Menschen ist auf der ganzen Welt zerbrechlich und das Leben hart.

Mehr möchte ich an dieser Stelle nicht verraten, denn »Die Wahrheit hinter der Lüge« von Sara Lövestam ist der genialste und mutigste Krimi, den ich seit langem gelesen habe. Der Plot ist raffiniert, die Figuren einfühlsam geschildert. Er ist spannend, voller überraschender Wendungen, gesellschaftskritisch und frei von blutverschmierten Tatorten, oberschlauen Pathologen und frustrierten Ermittlern. Und er gehört zu den ganz, ganz wenigen Krimis, die man tatsächlich zwei mal lesen kann. Denn erst mit dem allerletzten Satz erfährt die Leserin, warum Kouplan aus dem Iran geflohen ist, schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn und fragt sich, wie sie eigentlich die ganzen Hinweise übersehen konnte.

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Cover Sara Loevestam, Die Wahrheit hinter der Luege

Sara Lövestam
Die Wahrheit hinter der Lüge
Aus dem Schwedischen von Stephanie Elisabeth Baur
ISBN 978-3-499-27170-0
Rowohlt Taschenbuch Verlag